Wohnen im 20. Jahrhundert:Revolutionen im Wohnzimmer

Verschiedene Generationen haben sich an der Gemütlichkeit abgearbeitet: Das Vitra Design Museum zeigt eine lehrreiche Wohn-Ausstellung über Wohn-Ausstellungen.

Gerhard Matzig

"Ich verlange", sagte Karl Kraus, "von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst." Das war im Jahr 1912.

Oder, nur ein Jahr später: "Der Mensch, der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein Hanswurst." Das stammt von Adolf Loos.

Und Le Corbusier wollte Ende der zwanziger Jahre wissen (anlässlich der Eröffnung der Stuttgarter Weißenhofsiedlung): "Kram von vergoldeten Konsolen, Kredenzen, Büfetts, Vitrinen usw. Was fangen wir heute damit an?" Reine Rhetorik. Corbusier kannte die Antwort: in die Luft jagen. Nieder mit den malerischen Kredenzen - gemütlich sind wir selbst.

Noch manche Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren Zeiten des Zuviels. Haus- und Städtebau, Innenarchitektur, Raum- und Möbelgestaltung hatten in den Epochen zuvor, in Klassizismus und Historismus, wahre Schmuck-Delirien erlebt.

Alles, was der kanonische Fundus der Formen hergab, wurde wie im Rausch neu zusammengeschraubt: gotische Strebepfeiler, Renaissance-Giebel und barocke Verkröpfungen wurden mit Lust zitiert - bis zur größten Unlust. Nun, in der Zeit von Kraus und Loos, gab es mit einem Mal zu viel Gemüt, zu viel Dekor und viel zu viel Ornament. Es gab keine Wand mehr und keine Stütze, kein Sofagestell und kein Stuhlgebein, die noch unberührt gewesen wären vom Zierrat.

Das nackte Nichts musste den satten Zeitgenossen daher wie Utopia erscheinen, als Sehnsuchtsort.

Wer heute der Tristesse einer weißen Putzwand oder eines Flachdachs begegnet, möge ihnen folglich verzeihen. Sie entstammen schwierigen Familienverhältnissen.

Die Lust am "neuen", nämlich schmucklosen Wohnen, Bauen, Leben war Reaktion: ein Bildersturm in jener Zeit, in der es soviel Formerbe gab, dass man sich den Satz "Less is more" (Mies van der Rohe) leisten konnte. Ein Jahrhundert der Schmucklosigkeit später mag man dagegen Venturi zustimmen: "Mehr ist mehr."

Die gelegentlich ausgerufene "Neue Gemütlichkeit" entpuppt sich dennoch meist als Studie eines Trendbüros oder als neueste Verkaufsoffensive eines Kachelofenbauers, der die resopaltrüben Urinale der Tankraststätten deutscher Autobahnen bewirbt.

Eine Art Form-Pädagogik

Die sehenswerte Schau "Zerstörung der Gemütlichkeit?" im Vitra Design Museum legt daher Wert auf das Fragezeichen im Titel. Man begegnet ihr durchaus mit gemischten Gefühlen - in einer Zeit, die vom Gemüt und seiner Entsprechung in der Formwelt viel zu weit entfernt ist, als dass man die Lust an der Zerstörung vollständig teilen könnte.

Die von Jochen Eisenbrand kuratierte Ausstellung versammelt fast wehmütig die Schaustücke vergangener Wohnrevolutionen - die oft erst durch Ausstellungen angezettelt wurden.

Insofern ist die Vitra-Schau eine lehrreiche Wohn-Ausstellung über Wohn-Ausstellungen und die jeweiligen Folgen. In vier ineinander übergehenden, sowohl chronologisch wie thematisch angenehm übersichtlich geordneten Räumen sind die wichtigsten Exponate der Form-Pädagogik eines ganzen Jahrhunderts vertreten.

Da ist etwa das von Willi Baumeister entworfene Plakat für die Werkbund-Ausstellung der Weißenhofsiedlung (1927) zu sehen, auf dem der von Corbusier befehdete Kredenz-Kram mit roter Farbe durchgestrichen ist. Die Frage "wie wohnen?" wird mit einer Corbusier-Wohnung beantwortet, die den "Produktionsversuch menschlicher Heimat" (Bloch) zum Schlafwagen umrüstet. Wer in einer solchen Wohnung aus dem Bett steigt, muss es erst im Bettenschrank verschwinden lassen, um Platz für weitere revolutionäre Wohnideen zu schaffen.

Auch andere Generationen haben sich am Gemüt und an der Neuerfindung des Wohnens abgearbeitet. Das zeigt zum Beispiel die Dokumentation zur Ausstellung "Organic Design in Home Furnishings" (1941, Museum of Modern Art) oder der Showroom der Gruppe "Memphis", der auf der Mailänder Möbelmesse 1981 zu sehen war - und schmerzlich daran erinnert, dass Möbelmessen einmal Erfindermessen waren, bevor man sie zu Lagerhallen für geriatrische Wellness-Sofas degradiert hat.

Dieser Dialog über die popbunten Plastik-Memphis-Möbel der achtziger Jahre ist übrigens überliefert:

Frage: "Sie glauben also nicht, dass Memphis-Möbel zur Erschaffung eines neuen Zuhauses beitragen werden?"

Antwort: "Es gibt nur zwei Wohnungen, die ausschließlich mit Memphis eingerichtet wurden. Wenn man darin fünf Minuten verbracht hat, empfindet man das dringende Bedürfnis, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen."

Revolutionen, und seien es jene, die im Wohnzimmer stattfinden, sind eben selten gemütlich.

"Zerstörung der Gemütlichkeit?", Vitra Design Museum in Weil am Rhein, bis 28. Mai 2007.

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