Wie wir wohnen:Draußen vor der Tür

Lesezeit: 4 min

Von der Auto- zur Outdoor-Gesellschaft: Warum die Menschen in Deutschland Balkone und Terrassen vermöbeln und ihre Betten plötzlich im Freien stehen.

Von Oliver Herwig

Seit immer mehr Rasenroboter gemütlich über das Grün rollen, hat sich die Gartenfront selbst in der Vorstadt hörbar entspannt. Ein Samstag kann inzwischen fast entspannt klingen, und nicht mehr nur nach Kreissäge und Zweitakter. Natürlich gibt es immer etwas zu tun rund um das Haus, aber die meisten Menschen sitzen einfach gerne mal draußen, ohne dabei gleich selbst zum Gärtner werden zu müssen.

Städtern erscheint die Diskussion um das eigene Grün ohnehin seltsam abstrakt. Ihre Botanik beschränkt sich oft auf drei Pflanzen am und vor dem Fenster und einen Miniatur-Kräutergarten zwischen den Gittern des französischen Balkons. Auf den (in der Regel) viel zu kleinen Freisitzen stapelte sich lange Zeit Saisonware, die andere in die Rumpelkammer (so vorhanden) steckten oder gleich in den Keller verbannten: wetterfeste Stühle, Klapptische und der obligatorische Sonnenschirm. Doch das hässliche Plastik mit seinen voluminösen Polstern befindet sich seit geraumer Zeit auf dem Rückzug. Entspanntes Chillen auf der Terrasse und auf dem Balkon ist angesagt, nicht nur, weil es sich dort in Tropennächten einfach besser schlafen lässt.

Liegt es also am Klimawandel? Oder an der Outdoor-Begeisterung, die Fleece-Jacke und Wander-Look im Büro akzeptabel macht? Oder vielleicht sogar am Urban Gardening, jenen Grünzonen zwischen Asphalt und Kopfsteinpflaster, die einen daran erinnern, dass Städte oft dort entstanden, wo es rundherum guten Ackerboden gab? Jedenfalls wird deutlich: Nachdem die Deutschen die Gehwege erobert haben und draußen so entspannt sitzen wie sonst nur in Italien oder Südfrankreich, im Park Boule spielen und am Wochenende sowieso raus gehen in die Berge oder an den See, verschwimmen auch die Grenzen zwischen innen und außen.

Mini-Balkon in Berlin: Die Sehnsucht nach kleinen Fluchten wächst. (Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Draußen vor der Tür ist längst ein normaler, für viele vielleicht der entscheidende Teil der Wohnung. Jede Terrasse, jeder Freisitz erhöht den Wohnwert einer Immobilie. Drei von vier Deutschen besitzen Balkon oder Terrasse, viele haben sich dort fast ganzjährig eingerichtet. Was in den Achtzigerjahren Wintergärten und andere Vorbauten besorgen mussten, Zonen zu schaffen zwischen fast-schon-draußen und noch-etwas-drinnen, das übernehmen nun die Städter selbst, wenn sie nach einem Wandertag wetterfest nach Hause zurückkehren. Sie besetzen Terrasse oder Balkon und richten sich dort so ein wie im Wohnzimmer. Früher hieß dieses Gefühl "Balkonien", die pure Lust (und manchmal die pure Notwendigkeit), einen Sommer - wenn schon nicht im Urlaub -, so zumindest draußen zu verbringen. Der geniale Architekt und Städtebauer Bruno Taut (1880 bis 1938) taufte das Grün seiner Berliner Hufeisensiedlung bereits "Außenwohnraum" und pflanzte Kirschbäume im Halbrund der Anlage. Er wollte etwas Natur in die Köpfe der Städter bringen und die Grenzen zwischen ihnen aufheben. Sein Ziel war eine neue Gemeinschaft aller Anwohner. Das Draußen-Gefühl ist angekommen. Das Zusammen-Gefühl zumindest beim Public-Viewing oder einfach im Biergarten.

Woher stammt die Lust, den eigenen Balkon in ein zweites Wohnzimmer zu verwandeln? Man muss kein Soziologe sein, um hier einen der letzten Freiräume in unserem durchgetakteten und völlig verplanten Leben zu erkennen. Wenn Menschen jeden Augenblick unter Strom stehen, um ja keinen Tweet, ja keine Nachricht zu übersehen und auch keinen virtuellen Pokémon, wächst der Wunsch nach kleinen Auszeiten, und sei es nur für fünf Minuten am Balkon. Da kommt der eigene Outdoor-Bereich wie gerufen. Wie das geht, führen Stadt-Lounges schon seit Jahren vor: Sand über das Trottoir kippen, Liegestühle aufstellen und bunte Laternen aufhängen, fertig ist die Relax-Zone.

Zweites Wohnzimmer auf der Terrasse. (Foto: Rausch/dpa)

Nun folgt der logische nächste Schritt: Die Deutschen vermöbeln Balkone und Terrassen. Besonders gefragt sind aufwendige Stücke, die auch im Wohnzimmer stehen könnten. Der Markt für Outdoor-Möbel wächst mit zweistelligen Wachstumsraten. Es ist schwer, an verlässliche Daten zu kommen, aber einige Statistiken besagen, dass die Deutschen inzwischen etwa so viel Geld für Outdoor-Möbel ausgeben wie für Neuanschaffungen in der Wohnung: im Schnitt 200 Euro. Das klingt nicht nach viel, in der Summe ergibt sich ein Milliardengeschäft.

Es begann mit aufgemotzten Grills und Gourmetküchen, nun steht auch das Bett im Garten

Sofas, Leuchten, Teppiche und sogar Betten stehen plötzlich im Freien. Manche Stücke sehen aus, als hätten sie die Nachbarn einfach aus dem Wohnzimmer gezogen. Begonnen hat die Vermöbelung des Draußen mit aufgemotzten Grills, kleinen Gourmetküchen auf Terrassen und Balkonen - eine Art Edel-Frankfurter Küche, befreit von Mauern und Einteilungen. Dafür mit Edelstahlfronten und geölter, wärmebehandelter Fichte. Auf die gasbetriebene Komfort-Küche folgte der Sitz-Komfort.

Wenn sich das Leben schon draußen abspielte, wie sonst nur im Urlaub an der Adria und auf Malle, dann bitte mit allen Annehmlichkeiten. Outdoor-Kollektionen sind inzwischen so wetterfest wie ansehnlich. Sie können auf der Terrasse stehen - oder eben in der Wohnung. Und damit bei langen Sommerabenden nicht die Füße einfrieren, bieten viele Hersteller inzwischen sogar wetterfeste Teppiche an. Und gegen zu viel Sonne gibt es Bettinseln mit faltbaren Sonnensegeln.

(Foto: SZ)

Zum Licht, zur Sonne, versprach die Moderne und schuf so wunderbare Beispiele wie das Studentenwohnheim am Dessauer Bauhaus, bei dem jeder der winzigen Freisitze zu einem kleinen Schaulaufen vor den Augen der Außenwelt wurde - oder zu einem stilisierten Sprungturm für den Aufbruch in eine neue Gesellschaft, die den Mief und die Enge der großen Mietskasernen hinter sich lassen wollte. Wenn man bedenkt, dass es in der Stadt lange Zeit keine Balkone gab, weil es zu dicht, zu laut oder zu stickig war, sondern höchstens Loggien zum kühlen Innenhof, haben wir schon viel Land gewonnen: Balkone (eigentlich: Freisitze) gehören inzwischen zur Grundausstattung jeder Wohnung. Und sie werden so stark nachgefragt, dass Wohnungsbaugesellschaften mit hohem Aufwand ihre Immobilen mit vorgestellten Konstruktionen aus feuerverzinktem Stahl aufwerten. Zu teuer sollte der Freisitz aber doch nicht werden. Das zeigen Klagen gegen Mieterhöhungen nach einer solchen Maßnahme und diverse Expertenurteile, zu welchem Prozentsatz nun eigentlich die Balkonfläche auf die Mietfläche angerechnet werden kann.

Draußen lautet der neue Megatrend, der seltsame Mischformen entstehen lässt: Terrassenwohn- und Laubenspeisezimmer, eingerichtet mit wetterfesten, farbechten und abwaschbaren Stoffen und Materialien. Erstaunlich: Nicht der Ausflug zum Watzmann bietet das finale Outdoor-Erlebnis, sondern der halböffentliche Wohngarten mit oder ohne Freunde, bei dem wir den häuslichen Repräsentationsbereich einfach ein Stück ins Grüne verschieben. Dazu kuscheln wir uns auf wetterfesten Loungemöbeln aneinander, wie wir es zur Fußball-Weltmeisterschaft gelernt haben. Das ist fast eine Unabhängigkeitserklärung an den gemauerten Alltag.

© SZ vom 19.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: