Unsichere Altersvorsorge:Die Rente war sicher

Die virtuelle Finanzwelt hat die Realwirtschaft längst abgehängt. Das Credo der Finanzkapitalisten: zocken sei lukrativer als arbeiten.

Norbert Blüm

Schlag nach bei Hans Christian Andersen. Dass der Kaiser in seinem Märchen keine neuen Kleider, sondern gar nichts trug, sah jeder; aber keiner gab es zu, weil niemand als dumm gelten wollte. Denn dumm war, wer nicht sah, was die Hofschranzen als wunderbar ausgegeben hatten. Nur ein Bub, der seiner Sinne noch mächtig war, rief: "Aber der Kaiser ist doch nackt." Alle waren verblüfft, nun schämte sich sogar der Kaiser, denn auch er hatte die Schönheit seiner Gewänder für real, seinen Verstand aber für verrückt gehalten. Seine Höflinge hatten ihm stündlich ins Ohr geraunt, wie exquisit er gewandet sei.

Unsichere Altersvorsorge: Norbert Blüm (CDU) war von 1982 bis 1998 Bundesarbeitsminister.

Norbert Blüm (CDU) war von 1982 bis 1998 Bundesarbeitsminister.

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So geht es auch in der zweigeteilten Welt des virtuellen Finanzkapitals und der realen Arbeit zu. Die Scheidelinie verläuft zwischen Schein und Sein. Die Illusionswerte sind lukrativer als die Substanzwerte. Der Unterschied zwischen der virtuellen und der realen Welt lässt sich jedoch nicht beliebig steigern. Auch ein Luftballon kann platzen, und irgendwann platzen auch die größten Finanzblasen. Dazu bedarf es nicht eines kleinen Jungen, sondern nur irgendjemandes, der bei den großen Spielen plötzlich Angst um sein Geld bekommt und nicht mehr mitspielt. Man kann auch alles übertreiben, selbst Mutige bekommen bisweilen Angst vor ihrer Courage.

97 Prozent des Finanzkapitals, das den Erdball umkreist, haben mit Wertschöpfung und realen Gütern nichts mehr zu tun. Es ist Spielgeld, das zum Zocken verwendet wird. Mit den Dollar-Billionen, welche die Erde in sechs Tagen umkreisen, kann das amerikanische Sozialprodukt eines Jahres aufgekauft werden. Das Handelsvolumen der Frankfurter Derivatenbörse Eurex war im Jahr 2006 genau 46-mal größer als das deutsche Bruttoinlandsprodukt desselben Zeitraums. Der Handel mit Zinsderivaten war 1600-mal höher als die Summe aller Investitionen im Inland.

Die Realwirtschaft abgehängt

Die virtuelle Welt der Finanzgeschäfte hat die reale Welt der Wirtschaft abgehängt. Wertschöpfung, Arbeit und Produktion verkommen zur Restgröße. Mit Arbeit und Eigentum hat diese Art von Finanzkapitalismus so viel zu tun wie eine Fata Morgana mit einer real existierenden Oase. Die Sprache der Finanziers, Bankiers und Börsianer verrät schon ihr pubertäres Versteckspiel: "Expander-Zertifikate", "Airbag-Zertifikate", "Outperformance-Zertifikate". Diese Wortspiele sind Hokuspokus - wie die Sache, die sie ausdrücken sollen.

Die Kapitalmassen ziehen um den Erdball und suchen verzweifelt Bodenkontakt. Sie kreisen über den Börsenplätzen herum. Viele Landeplätze gibt es nicht mehr. Es wird privatisiert auf Teufel komm heraus. Denn was nicht privatisiert ist, eignet sich auch nicht zur Finanzvermarktung. Wasserversorgung, Strafvollzug ... alles wird privatisiert und kapitalisiert. Als letzte Beute steht das Sozialsystem im Visier der globalen Kapitalstrategen. Kapitalisierung von Rente, Pflege, Krankenversicherung, das ist deshalb der letzte Schrei der Finanzkapitalisten, die sich als Retter aus sozialer Not maskiert haben.

"Die Rente ist sicher", habe ich vor zwanzig Jahren gesagt. Nun darf man hinzufragen: Welche denn? Bestimmt nicht die börsenorientierte! Von 112.000 Pensionsfonds der Vereinigten Staaten haben 32.000 überlebt. Der umlagefinanzierten Rentenversicherung ist ein solches Desaster noch nie passiert. 700 Milliarden Dollar werden jetzt ins amerikanische Bankensystem gepumpt. Aber das ist nur die erste Anzahlung. Weitere Raten werden folgen. Das ist vorerst so viel Geld, wie die Rentenversicherung hierzulande ungefähr in drei Jahren ausgibt.

Dem Kapital hinterhergeflattert

Die Umverteiler gelten als sozialistische Teufel. Auf der Börse aber wird mehr umverteilt, als es die Rentenversicherung je schaffte. Wenn sich der Kurs einer global gehandelten Aktie um ein Prozent ändert, wird mehr umverteilt, als an diesem Tag auf der ganzen Welt an Lohn verdient wird. Wenn ein Unternehmen mit hohem Aktienkurs verstaatlicht wird, ist das "Sozialismus". Bei niedrigen Aktienkursen ist es "Sicherung der Marktwirtschaft". Bei welchem Aktienkurs wandelt sich Verstaatlichung in Marktwirtschaft?

Warum eine durchkapitalisierte Gesellschaft eine bodenlose Gesellschaft ist.

Die Rente war sicher

Eine durchkapitalisierte Gesellschaft ist eine bodenlose Gesellschaft. In ihr kommt der Mensch nur noch im Überbau vor, als "Humankapital". Auch als "Ich-AG" kann der Arbeiter notfalls noch überleben, sozusagen ein Homunkulus, der Vorstandschef, Hauptaktionär, Arbeitnehmer und Kunde seiner selbst ist. Ohne die Maske des Kapitals rührt sich eben nichts mehr in der kapitalistischen Gesellschaft. In einer solchen Gesellschaft flattern die Menschen wie die Zugvögel hinter dem Kapital her. Heimatlos ist der moderne Arbeitnehmer. Er gehört nirgends dazu. Zum Unternehmen jedenfalls nicht, das ist längst zur Kapitalsammelstelle degeneriert.

Jahrtausende hat der Mensch gebraucht, um Sesshaftigkeit zu üben. Jetzt wird ihm wieder Wanderschaft zugemutet. Mobilität soll sein Wesen ausmachen. Nur nicht festlegen, nur nicht festsitzen. Immer offen und beweglich soll er sein. Der Tagelöhner ist die Leitfigur der mobilen, flexiblen Wirtschaft, die keine anderen Regeln mehr kennt als profitablen Kapitaleinsatz. Deshalb weg mit Kündigungsschutz, weg mit Mitbestimmung und so weiter. Arbeit ist Arbeitskraft und sonst nichts.

Leistung ist kein Glücksspiel

Doch der Mensch ist nicht so knochenlos, wie es die neue Biegsamkeit verlangt. Die Natur des Menschen schlägt zurück. Der Neoliberalismus scheitert am Menschen, wie er ist, sein will und soll. Erst wenn sich das Kapital wieder in Eigentum zurückverwandelt, also wenn Mein und Dein wieder identifizierbar sind, hat es eine Überlebenschance. Eigentum muss auf Arbeit fußen, wenn es seine Legitimation erhalten will. In der christlichen Soziallehre rechtfertigt sich Eigentum als "Frucht der Arbeit". Eigentum, das nicht in Arbeit seinen Ursprung hat, stand dagegen immer unter dem Verdacht, gestohlen zu sein, wurde allenfalls als "Besitzergreifung herrenlosen Gutes" akzeptiert.

Arbeit, mit der Eigentum legitimiert wird, kann freilich in vielerlei Gestalt auftreten. Sie kann auch eine Finanzdienstleistung sein, aber nur so lange sich diese Finanzdienstleistung in der Pflicht sieht, dem Allgemeinwohl zu dienen. Die Leistung, auf der die Marktwirtschaft basiert, ist kein Glücksspiel, sondern Motivation und Legitimation für Erfolg. Arbeit ist die reale Quelle des Wohlstandes. Das wusste Adam Smith, der als Erfinder der Marktwirtschaft gilt. Seine neoliberalen Nachfahren haben es vergessen.

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