Unklare Grenze zwischen Dienst und Freizeit:Das soll Arbeit sein?

Geld gegen Zeit - so funktioniert das in Deutschland: Chefs wollen ihre Angestellten nur für die Stunden entlohnen, in denen sie wirklich arbeiten. Doch der Job greift oft in die Freizeit hinein. Eine Grenze zu ziehen, wird immer schwieriger.

Von Malte Conradi

Stundenlang standen die Arbeiter vor den Werkstoren, hoffend und bangend. Denn nur einer der begehrten Arbeitsplätze an den Dampfmaschinen bedeutete zumindest einen kargen Stundenlohn. Wer nicht an die Reihe kam, hatte seine Zeit umsonst vertan. Auch wer krank war und sogar wer durch einen Unfall in der Fabrik arbeitsunfähig wurde, erhielt kein Geld. Bezahlter Urlaub? Auf solche Ideen kamen die Arbeiter nicht mal im Traum - und die Arbeitgeber natürlich erst recht nicht.

So ging es zu, als im 18. und 19. Jahrhundert in England die Industrie erwachte. Vieles mag sich seitdem geändert haben, aber eines ist geblieben: Der eherne Grundsatz des Kapitalismus, dass es Geld nur gegen vollbrachte Leistung gibt, steht bis heute fest.

Und Leistung, das bedeutet in den allermeisten Fällen immer noch: Anwesenheit. Daran ändert auch das modische Schlagwort von der Vertrauensarbeitszeit nichts - ein Modell, nach dem die Mitarbeiter für Ergebnisse bezahlt werden, egal ob sie für die eine Stunde brauchen oder einen ganzen Tag.

Ein Eingeständnis, dass Mitarbeiter sowieso immer im Einsatz sind

Kürzlich erst hat der britische Milliardär und Unternehmer Richard Branson einigen seiner Angestellten völlig freigestellt, wie viel Urlaub sie nehmen und wann sie im Büro erscheinen. Was auf den ersten Blick paradiesisch anmutet, ist letztlich nichts anderes, als das Eingeständnis, dass diese Mitarbeiter sowieso immer im Einsatz sind: Von ihnen wird erwartet, dass sie auch nach 17 Uhr und am Wochenende darüber nachdenken, wie Branson noch mehr Geld verdienen könnte. Erreichbar und einsatzbereit sind sie mit Smartphone und Laptop ohnehin ständig.

Nicht wenige sehen in einer so entgrenzten Arbeit die Zukunft. Doch noch werden die allermeisten Deutschen dafür bezahlt, dass sie sich für einen bestimmten Zeitraum an fünf Tagen die Woche ihrem Chef zur Verfügung stellen. Geld gegen Zeit.

Und so versuchen viele Arbeitgeber auch in Zeiten von Tarifverträgen und gesetzlichem Urlaubsanspruch noch, ihre Angestellten möglichst nur für genau die Zeit zu entlohnen, in der sie auch wirklich arbeiten - also Geld für die Firma erwirtschaften. Das führt immer wieder zu Streit, denn wo die Arbeitszeit beginnt und wo sie endet ist Auslegungssache. Denn das deutsche Arbeitszeitgesetz definiert Arbeitszeit lediglich als "die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen".

Wenn es nur so einfach wäre. Unterhält man sich mit Gewerkschaftern, hört man zahlreiche Geschichten, wie vor allem in kleineren Betrieben versucht wird, die Arbeitszeit kleinzurechnen. "Die Arbeitgeber missverstehen da vieles", sagt ein erfahrener Gewerkschafter. "Oder sie wollen es vielleicht auch missverstehen." So müssen sich deutsche Gerichte etwa immer wieder mit der Frage beschäftigen, ob die Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes auch im Auto auf dem Weg zum nächsten Kunden arbeiten. Manche Firmen würden diese Zeit gerne der Freizeit zurechnen - Geld kommt schließlich nur dann rein, wenn der Mitarbeiter vor Ort ist. Und immerhin gilt auch sonst der Grundsatz, dass die Fahrt zur Arbeit Privatsache ist, Stichwort Werkstorprinzip.

In diesem Fall hieße das allerdings, dass ein Pfleger, der acht Stunden im Einsatz ist, vielleicht nur für vier oder fünf Stunden bezahlt wird. Hier ist die Sache klar, der Angestellte muss auch für die Fahrtzeiten bezahlt werden, denn die gehören bei einem ambulanten Dienst einfach dazu. Die Fahrt zum Kunden gehört zu den sogenannten Hauptpflichten eines ambulanten Pflegers. Dasselbe gilt übrigens für die Zeit, in der Taxifahrer auf den nächsten Fahrgast warten.

Wenn der Mindestlohn kommt, geht es um jede Minute

Geklärt ist hierzulande auch die Frage, um die in den USA derzeit ein Streit tobt: Wenn ein Unternehmen verlangt, dass Angestellte sich durchsuchen lassen, dann muss er sie für diese Zeit auch bezahlen. Schließlich geschehen die Durchsuchungen nur auf seinen Wunsch und zu seinem Schutz.

Aber es gibt auch viele Graubereiche. Was ist zum Beispiel mit der Zeit, die der Angestellte eines großen Werks benötigt, um vom Werkstor an seinen Arbeitsplatz zu gelangen? Wie wird mit den Minuten verfahren, in denen ein Mitarbeiter seine Dienstkleidung anlegt - Freizeit oder Arbeit? Erst vor einigen Tagen entschied das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, dass Dortmunder Polizisten ihre Dienstwaffe, ihre Schutzweste und den Schlagstock nicht vor Dienstbeginn anlegen müssen. Immerhin zehn Minuten Arbeitszeit gestehen die Richter den Polizisten dafür zu.

"Als Faustformel gilt: Alles, was der Arbeitgeber veranlasst, ist Arbeitszeit", sagt Jens Schubert, Chef-Jurist bei der Gewerkschaft Verdi. "Der Arbeitnehmer kann ja nichts dafür, dass die Werkshalle so groß ist, dass die Firma Sicherheitskontrollen verlangt oder der Job besondere Schutzkleidung nötig macht."

Eine Ausnahme gibt es allerdings bei der Arbeitskleidung. Hier lautet die Frage, ob der Arbeitnehmer die Sachen auch problemlos auf dem Arbeitsweg tragen kann. Dann zählt das Umziehen zur Freizeit. "Bei einem normalen Blaumann geht das problemlos, bei Schutzkleidung für eine OP-Schwester oder in einem Atomkraftwerk dagegen nicht", sagt Schubert.

Dasselbe gilt für alle anderen sogenannten vorbereitenden Tätigkeiten wie etwa das Einrichten einer Maschine oder das Zusammensuchen von Werkzeug. Alles, was den Angestellten erst in die Lage versetzt, die Arbeit aufzunehmen, muss vom Chef auch bezahlt werden.

Ein paar Minuten zum Umziehen oder zum Hochfahren des Büro-Computers (sogar darum gibt es regelmäßig Streit) - das mag zunächst nach einer lächerlichen Petitesse klingen. Besondere Brisanz erhält die Frage nach exaktem Beginn und Ende der Arbeitszeit aber mit der Einführung des allgemeinen Mindestlohns. Denn beim Ermitteln des Stundenlohns zählt am Ende jede Minute. Arbeitsrechtler erwarten daher in Zukunft noch mehr Streit um die Frage: Arbeit oder Freizeit?

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