Ungewöhnliches Wohnen:Herr Bärbeiß hinterm Fenster

Auf der Suche nach der Form: In der Schwabinger Veterinärstraße hat der Maler Reiner Zimnik sein Atelier.

Von Corinna Sigmund

Es ist immer seltsam, wenn ein Bild plötzlich eine Wirklichkeit bekommt. Das Städtchen L'Estaque ist etwas völlig anderes als Cézannes Bild von L'Estaque. In gewisser Hinsicht ist die Wirklichkeit immer erst mal ein Rückschritt. Die Wirklichkeit ist ein Fenster, während das Bild bereits ein Blick durch dieses Fenster ist.

Reiner Zimnik; SZ

Reiner Zimnik an dem Ort, wo er "die Form" finden will.

(Foto: Foto: SZ / St. Rumpf)

Das Fenster unterm Giebel des gilbgelben Hauses in der Veterinärstraße 8 hat die Größe eines Ballettspiegels und ist zerbrochen in vier mal sieben Fensterquadrate, die durch dünne Streben voneinander getrennt sind. Die Scheiben sind ungewaschen und blind, trotzdem muss noch unendlich viel Licht in den Raum hinter dem Fenster fluten. An warmen Tagen steht der Flügel eines kleineren Fensters linkerhand offen.

An solchen warmen Tagen streben Hunderte Menschen an diesem Haus vorbei dem Englischen Garten zu, Dutzende Hunde heben am Laternenpfahl gegenüber ihr Bein, ein paar eilige Pferdetransporter zockeln unter dem Fenster vorbei in Richtung Tierklinik. Die Veterinärstraße ist so etwas wie eine Passage zwischen Universität und Englischem Garten.

Imagination...

Und umso auffälliger ist es, dass unter dem Fenster immer wieder Passanten innehalten, hinaufsehen und für ein paar Sekunden ihr Ziel aus den Augen zu verlieren scheinen, ihren Gedanken nachhängen. Der Grund dafür ist, dass dieses Fenster weniger ein Fenster ist als vielmehr ein Bild.

Es ist das Bild des Lebensraums eines Künstlers, und wer nah genug an der Tür des Hauses vorbeischlendert, um auf das Klingelschild spähen zu können, der liest da: "Atelier". Genauer: "Atelier Zimnik". Und eigentlich braucht man mehr nicht für das Bild. Das Fenster und "Zimnik" und "Atelier" reichen völlig aus, um sich vorzustellen, wie es da oben aussieht. Eine große Staffelei wird es geben, einen Tisch mit Resten von getrockneter Acrylfarbe, ein grünes, durchgesessenes Sofa vielleicht, eine offene Weinflasche und eine Tasse mit Kaffee und ohne Henkel. Nur der Künstler will nicht recht Gestalt annehmen.

Herr Bärbeiß hinterm Fenster

...und Realität

atelier veterinärstraße; st. rumpf

Im obersten Stock des Hauses Veterinärstraße 8

(Foto: Foto: SZ / St. Rumpf)

Der Künstler ist klein und kräftig und knorzig. Er gibt dir 20 Minuten und du weißt, die sind mit Vorbehalt, denn wenn du ihn langweilst, wirft er dich raus. Es gibt keine Staffelei, kein Sofa, keinen Wein, und trotzdem findet man die eigene Kopfkulisse wieder: in den hohen Wänden, die behängt sind mit Rahmen aller Art - Zimnik ist Schreiner -, in dem über einer Tür thronenden Geweih - Zimnik ist Jäger -, in den mit Zeichnungen bedeckten langen Holztischen und in den Stapeln von Bildern, die auf dem Fußboden an den Wänden lehnen; in diesem ganzen gesunden werkstättischen Chaos von Reiner Zimnik, dem Künstler.

Wie lang er schon hier lebe. "45 Jahre". Wie lange er vorhabe, hier zu bleiben. "Bis sie mich raustragen." Natürlich ist das Atelier immer eine Künstlerwohnung gewesen. Den Vormieter, den Maler Kaspar Flötter, kannte er vom Eisstockschießen. "Wenn das Atelier frei wird, gibst es mir", hatte er zu dem gesagt. Viel später, als Zimnik schon gar nicht mehr daran dachte, rief Flötter an.

Was früher Lebens- und Arbeitsplatz war, ist heute allein Laboratorium für Zimniks Suche nach der Form. Als mit seinen Arbeiten fürs Fernsehen, wie dem "Gsangl" oder dem "Lektro", und mit dem Erfolg seiner illustrierten Erzählungen und Kinderbücher Geld hereinkam, hat er sich ein Bedürfnis erfüllt und zusätzlich die Wohnung im ersten Stock gemietet. "Es ist nicht gut, wenn man ernsthaft arbeitet, im Lebensgeruch." Für vier oder fünf Stunden steigt Zimnik täglich hinauf, um "die Form zu finden". Darum geht es ihm beim Malen.

Herr Bärbeiß hinterm Fenster

Nichts Komisches

"Woran arbeiten Sie gerade?" Zimnik bringt seinen Kopf leicht in Schräglage, wirft einen Lidschlag lang Skepsis über den Rand der Brille und schiebt die Zigarre ein Stückchen weiter nach links im Mund, um Platz zum Sprechen zu schaffen. "Kennst die Venus von Willendorf?" Er zeigt auf eine faustgroße, dickleibige Frauenfigur, die am Rand des Tisches steht. Er zeichne gerade auf der Basis dieser steinzeitlichen Venus. Das Schwierige sei, Figurinen zu schaffen, die keine Karikaturen sind und auch keine Gartenzwerge. So sei er wieder auf die Aktzeichnung gekommen, die er mit etwas Archetypischem, einer Urmutter, vereinen wolle.

Die Federzeichnungen der durch helmartige, das Gesicht verbergende Hüte abstrahierten Körper haben tatsächlich nichts Komisches. Im Gegenteil, sie sind auf eine Art schlicht schön. Das Beste ist, "wenn es gelingt, einem unscheinbaren Körper Würde zu geben", sagt er - und mit einem Blick auf die einfache Küchenuhr an der Wand, "so, jetzt ist es Zeit, jetzt werd' ich wieder bärbeißig."

Eineinhalb Stunden später, draußen vor der Tür, ein letzter Blick hoch zum Atelier. Das Bild bleibt ein Bild. Es ist jetzt eins, das weniger abstrakt ist, weil hier einer weder abstrakt denkt noch abstrakt fühlt noch abstrakt malt. Aber dennoch ein Bild. Und ein Bild ist immer ein Fortschritt.

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