Unfälle: Kaufbeuren:Der Crash-Kreis

Kennzeichen KF: In keinem deutschen Landstrich verursachen die Einwohner so viele Autounfälle wie in Kaufbeuren im Allgäu. Ein Besuch in einem Ort, der zum Gespött der Republik geworden ist.

Alina Fichter

Kaum ist die Besucherin am Ortsschild vorbeigefahren, umklammert sie das Lenkrad fester. Schweiß auf der Stirn, lässt sie den Blick über die Straße schweifen. Gleich muss es losgehen: Autos, die mit quietschenden Reifen aus einer Einfahrt schießen. Ein wildes Überholmanöver, zwei Wagen krachen im Höllentempo aufeinander und überschlagen sich mehrmals. Glas splittert, Blechteile fliegen durch die Luft, aus verbeulten Wracks steigt Rauch auf. Das sind die Bilder im Kopf, die Kaufbeuren provoziert. Die Bewohner der Stadt im Allgäu verursachen 40 Prozent mehr Unfälle als der deutsche Durchschnitt. 40 Prozent.

Die Stadt Kaufbeuren im Allgäu belegt seit fünf Jahren Platz eins auf der wenig ruhmreichen Liste der meisten Autounfälle Deutschlands.

Die Stadt Kaufbeuren im Allgäu belegt seit fünf Jahren Platz eins auf der wenig ruhmreichen Liste der meisten Autounfälle Deutschlands.

(Foto: AP)

Jedes Jahr untersucht der Gesamtverband der Versicherer, wie viele Unfälle geschehen und wie teuer sie ausfallen. Anschließend teilt er das Land in Regionalklassen ein. Je häufiger es kracht und je teurer es wird, desto höher die Versicherungsprämie der Autofahrer. Kaufbeuren, Kennzeichen KF, lässt den Rest der Republik auf der Risiko-Rangliste weit hinter sich. Die kreisfreie Stadt im Ostallgäu steht auf Platz 1 von 418 Zulassungsbezirken, und das schon seit Jahren. KF ist der Crash-Kreis der Republik.

"Wir stehen selbst vor einem Rätsel"

Die Kaufbeurer sind in Aufruhr, seit sie kürzlich zum fünften Mal in Folge den schlechtesten Listenplatz errangen. Sie zahlen die höchsten Versicherungsbeiträge in ganz Deutschland. Aber viel schlimmer wiegt für viele, dass sie sich den Spott der gesamten Nation gefallen lassen müssen: Als "Deutschlands schlechteste Autofahrer" beschimpfte sie die Bild-Zeitung.

Seitdem bedrängen die Einwohner ihren Bürgermeister: "Sind unsere Straßen so schlecht? Warum liegt bei uns alles im Argen?" Dem Bürgermeister ist das höchst unangenehm, er lässt der Polizei keine Ruhe mehr. Aber auch die weiß nicht weiter. Eine ganze Stadt rätselt: Warum zum Teufel kracht es bei uns so viel öfter als anderswo? Vorsichtshalber parkt die Besucherin das Auto neben der Polizeidienststelle, die Stadt gibt sich bisher verschlafen und friedlich. Die Straßen sind leer, der Morgennebel liegt auf den Kopfsteinpflaster-Gassen. Hauptkommissar Thomas Maier muss die Antwort auf die Frage kennen, die sich hier jeder stellt. Er ist Kaufbeurens Polizeichef.

Auf der Schulter seiner grünen Strickjacke prangen fünf silberne Sterne, "Dienstgrade", sagt der schmale Mann freundlich. Ein paar Sonnenstrahlen schaffen es durch die gelbliche Lamellengardine und fallen auf seine Geheimratsecken. Er schlägt die Beine übereinander. Also, Herr Maier: Wieso kracht es hier so oft? Kaufbeuren liegt am Alpenrand, sind es Eis und Schnee?

Maier schüttelt den Kopf. Er tippt auf seinen Computermonitor, auf dem bunte Säulen mit Monatszahlen zu sehen sind. "Im Winter gibt es bei uns kaum mehr Unfälle als im Sommer", sagt er, das könne es also nicht sein. Und der Morgennebel? Der ziehe sich bis weit in die Nachbarstädte. "Wir stehen selbst vor einem Rätsel", sagt Maier. Er zieht hilflos die Schultern mit den vielen Dienstgraden darauf hoch.

Ach kommen Sie, Herr Maier, es muss doch einen Grund geben: Sind die Straßen zu schlecht, die Kreuzungen zu gefährlich? Die Bundesstraße 12 heißt im Volksmund immerhin "Todesstrecke". Maier schüttelt wieder den Kopf: "Es gibt keine Stelle, an der sich Unfälle so häufen, dass es statistisch relevant wäre", sagt er.

"Die da! Die Alten bauen die vielen Unfälle"

Dann fahren die Kaufbeurer vielleicht derart schlecht Auto, dass sie die Quote gemeinsam nach oben treiben? Der Polizeichef beugt sich komplizenhaft vornüber und flüstert: "Dann wären die Fahrschulen schuld." Er zwinkert, vielleicht, weil ihn die Sonne blendet.

Die Fahrschule "Folter"

Eine der ältesten Fahrschulen am Ort trägt den Namen "Folter". Es ist Prüfungstag, ein junger Mann schlottert in der Kälte. Schulchef Walter Folter hinkt herbei. Ein Unfall? "Arthrose", sagt er. Sein Vater hat die Schule vor 60 Jahren gegründet, er führt sie weiter. Generationen von Kaufbeurern haben bei Folters fahren gelernt. Zu schlecht etwa? "Quatsch", sagt Walter Folter, dann mischt sich der Prüfer ein: "Ganz im Gegenteil, die Folters sind spitze!"

Im Bundesdurchschnitt fielen beinahe 30 Prozent bei der Führerscheinprüfung durch, in Kaufbeuren nur etwa 20. Weil die Prüfer zu lasch sind? "Ich halte mich an klare Richtlinien", knurrt der Prüfer und weist den frierenden Jüngling an, loszufahren. Am Ende werden alle Folter-Schüler ihren Schein bekommen.

Schräg hinter der Polizeidienststelle liegt die Fußgängerzone. Kaufbeuren gibt sich noch immer verschlafen, obwohl es schon Mittag ist. Zwei weißhaarige Damen in Blumenröcken schlendern in Richtung Berge, die von hier aus zu sehen sind. Vor dem Schaufenster einer holzvertäfelten Apotheke setzen sie ihre Strohkörbe ab und beginnen einen Plausch. Ein junger Mann beobachtet sie aus der Entfernung, deutet in ihre Richtung und zischt: "Die da! Die Alten bauen die vielen Unfälle. Sie sind Schuld an der miserablen Statistik."

Die Alten? 23 Prozent der Einwohner Kaufbeurens sind über 65, das ist mehr als anderswo. Viele von ihnen dürften Auto fahren, anders können sie ihre Einkäufe gar nicht erledigen; es gibt ja kaum öffentliche Verkehrsmittel. Aber können sie eine Unfallstatistik derart in die Höhe treiben - auf 40 Prozent über den Durchschnitt? Kaum zu glauben.

Egal wo in Kaufbeuren man nachfragt: Überall kursieren die wildesten Spekulationen darüber, wer verantwortlich ist für die vielen kaputten Autos. Die Jungen schieben es auf die Alten. Die Alten finden, die Jungen seien verantwortungslose Raser. Manche denken, die Ausländer seien Schuld; andere sagen, die Alteingesessenen könnten nicht Auto fahren. Sogar Verschwörungstheorien machen die Runde. Ein sportlicher Kerl in blauer Daunenjacke beugt sich vor, wie viele hier, wenn sie ihre Erklärung für die Kaufbeurer Misere preis geben: "Die hohe Kneipendichte ist der Grund", sagt er leise lächelnd und verschwindet.

"Laterne übersehen"

"Alle spotten über uns"

Der Mann, der sich am meisten über die mysteriöse Unfallquote grämt, residiert nur ein paar Meter entfernt im altrosa Rathaus am Ende der Fußgängerzone. Die Eingangshalle erinnert an eine Kirche, bunte Mosaikfenster, die Schritte hallen auf den Stufen in den ersten Stock, wo Oberbürgermeister Stefan Bosse wartet. Igelfrisur, besorgter Blick, grauer Anzug. Wann Bosse selbst seinen letzten Unfall gebaut hat? "Im vergangenen Jahr", sagt er und wedelt beschwichtigend mit der Hand. "Ich habe beim rückwärts fahren eine Laterne übersehen." Es sei nix Ernstes passiert, schiebt er schnell hinterher. Kein Versicherungsfall also, der die Statistik verschlechtert.

Vor Bosse auf dem Tisch liegt ein dicker Aktenordner mit den gesammelten E-Mails an den Verband der Versicherer. Es ist das Ergebnis aus fünf Jahren verzweifelter Korrespondenz. Seine Mails münden immer in die gleiche Frage: Warum, in Gottes Namen, kracht es so oft in Kaufbeuren? "Wir stochern da völlig im Nebel", sagt er.

Der Ton der Mails ist flehend, ein Satz darin heißt: "Die Zahl der erfassten Verkehrsunfälle in Kaufbeuren ist deutlich niedriger als in vergleichbaren Städten der Umgebung." "Wir bauen also weniger Unfälle als die", sagt Bosse, und trotzdem tauchten die Nachbarstädte in der Statistik nicht auf den vorderen Plätzen auf. "Wer soll das verstehen?" Der Oberbürgermeister seufzt.

Bosses letzte Hoffnung ist der Gesamtverband der Versicherer. Von ihm fordert er alle Daten, aus denen hervorgeht, wie die vielen Unfälle entstehen. "Ich will wissen, ob ich mehr Kreisverkehre bauen muss oder weniger", sagt er. Ob er Raser härter bestrafen sollte oder mehr Alkoholkontrollen einführen muss. Oder alles zusammen?

Bosse hat die Nase gründlich voll von der alljährlichen Erniedrigung: "Es macht absolut keinen Spaß, von der ganzen Republik durch den Kakao gezogen zu werden", sagt er. Im vergangenen Jahr habe ein Fernsehteam den Auftrag gehabt, die "dümmsten Autofahrer Deutschlands" zu filmen. "Alle spotten über uns", jammert der Oberbürgermeister.

Vor dem Rathaus stehen zwei Männer und rauchen. "Wissen Sie, was ich glaube?", fragt einer von ihnen und beugt sich vor: "Mit den Zahlen vom Versicherungsverband stimmt was nicht." Er spricht aus, was viele hier denken. Christian Lübke vom Versicherungsverband kennt die Vorwürfe, wehrt aber ab: "Unsere Zahlen stimmen", sagt er und erklärt, wieso sie sich von der Polizeistatistik unterscheiden: "Viele Unfälle, die der Versicherung gemeldet werden, bekommen die Beamten gar nicht mit" sagt er. Zudem erfasse der Verband - anders als die örtliche Polizei - auch Unfälle, die ein Fahrer mit KF-Kennzeichen in Berlin oder auf Rügen baue.

Es ist ein Rätsel. Die Besucherin wird das Gefühl nicht los, dass es jeden Moment losgehen muss: wilde Überholmanöver, Autos, die im Höllentempo aufeinander krachen. Als sie den eigenen Wagen unversehrt neben der Polizeistation wieder findet, atmet sie erleichtert auf.

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