SZ-Serie Wohnungssuche:Ein Hauch von Bosporus

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In Istanbul zählt die Aussicht, und für die muss man auch bezahlen. Nur Mieter aus dem Ausland bewerten den Preis einer Wohnung nach der Quadratmeterzahl. Aber die stimmt ohnehin nie.

Von Mike Szymanski

Gucken kostet nichts? Von wegen. In Istanbul ist "der Blick" alles. Wenn Ahmet Bircan, seit 30 Jahren Makler in Istanbuls Innenstadt-Viertel Beyoğlu, Wohnungssuchende trifft, dann ist seine erste Frage diese: "Mit Blick oder ohne?"

Blick heißt: Ausblick auf den Bosporus. Und: Blick kostet. Aber wenn man ihn einmal genießen durfte, fällt es schwer, hinterher Nein zu sagen. Und nun steht man in der Baustelle einer Wohnung, die quasi "Blick pur" ist. Nur nackte Mauern und Ausblick. Die Fensterfront ist noch nicht eingebaut. Vierter Stock in einem renovierten Stadthaus. Hanglage. Auf dem Balkon weht ein sanfter, kühler Wind. Direkt vor einem führen die Bosporus-Schiffe ihre tagtägliche Choreografie auf, die nie langweilig wird. Der Besucher schaut auf die Dolmabahçe-Moschee, die imposante Bosporus-Brücke und kann sich an all dem gar nicht sattsehen.

Und jetzt zum Preis für diesen Genuss: 4500 Euro Monatsmiete für diese Vierzimmerwohnung im Entstehen. Alles neu gemacht, sagt der Makler. Plus Nebenkosten. Ahmet Bircan kennt sich aus; er weiß, dass er nicht sehr lange auf zahlungskräftige Mieter warten muss. Früher oder später macht dieser Blick fast jeden so unvernünftig, mehr zu zahlen, als er unbedingt wollte.

Das Gute an den Mehrgeschossern im Stadtzentrum ist, dass man entsprechend des Budgets einfach ein paar Stockwerke weiter oben oder eben unten einziehen kann. So gibt es quasi den Staffel-Blick mit Varianten, beginnend bei: Ein-Hauch-von-Bosporus bis Bosporus-Kino. Um Bosporus-Kino erleben zu dürfen, folgt man - wenn es finanziell nicht ganz gereicht hat - dann auch gerne mal der Bitte der Nachbarn, in den Ferien die Blumen zu gießen, auch wenn man dazu jedes Mal die Treppen in den sechsten Stock des Nachbarhauses nehmen muss. Oben angekommen, immer noch etwas aus der Puste, macht die Aussicht die Strapazen vergessen. Und man bedankt sich hinterher noch bei den erholten Urlaubern, dass man ihnen behilflich sein durfte.

Andererseits sollte niemand die Kellergeschosswohnung unterschätzen, nur weil der Makler Interessenten erst mal die Treppe unter Tage führt, ins Dunkle. Von den Fensterschlitzen in der Küche - der Straße zugewandt - blickt man auf Autoräder, wenn man das Essen im Licht kleiner Deckenspots zubereitet. Nach hinten heraus kann eine solche Wohnung dank der Hanglage ein Juwel sein, hell, und erst recht, wenn ein kleiner Garten dazugehört. Selten genug, mitten in der Stadt.

Makler Bircan ist behilflich, die Lage weniger emotional zu betrachten. Eine kleine durchschnittliche Familienwohnung - drei Zimmer auf 90 bis 100 Quadratmeter in Zentrumslage - kostet um die 3500 türkische Lira. Ohne Blick. Das sind umgerechnet knapp 1100 Euro Miete im Monat. Und mit Blick? Gleich mal 500 Euro mehr.

Nur der Mieter aus dem Ausland macht den Fehler, sich an den Quadratmeterzahlen zu orientieren, die im Angebot vermerkt sind. Diese Zahlen stimmen so gut wie nie. Der türkische Ansatz ist eher wie Schuhe kaufen. Die Größe ist ein Richtwert, damit man weiß, in welches Regal man greifen muss. Entscheidend ist, ob die Wohnung passt.

Ob im siebten Himmel oder im Kellergeschoss, irgendwo findet jeder seinen Platz in Istanbul. (Foto: Emrah Gurel/AP)

Wer an Ausländer vermietet, versucht den Preis mit gehobener bis exklusiver Ausstattung noch in die Höhe zu treiben, deshalb sind die verlangten 4500 Euro Miete für die Wohnung, die noch eine Baustelle ist, auch nicht die Ausnahme. Mieter auf Zeit sind bei den Türken gerne gesehen. So können sie alle paar Jahre die Miete anpassen, in der Vergangenheit sind sie immer rasant gestiegen.

Für die teuerste Wohnung, die Ahmet Bircan gerade im Angebot hat, muss man zurzeit 5500 Euro Miete im Monat hinlegen. Ohne Nebenkosten. Es handelt sich um eine Dachgeschoss-Wohnung auf zwei Etagen. Kaufen könne man sie auch, für 2,5 Millionen Euro.

Dass Bircan sie im Moment nicht zeigen kann, liegt daran, dass ein Zwischenmieter darin wohnt. Seitdem eine Welle von Terroranschlägen die Türkei erschüttert und die Angriffe längst auch die Bosporus-Metropole erreicht haben, reißen ihm die Investoren die Wohnungen nicht mehr aus den Händen - so wie früher. Los wird er sie immer noch, nur muss er jetzt manchmal ein paar Monate warten.

Der Bau-Boom gilt als Beleg dafür, dass Staat, Stadt und Partei auch wirklich arbeiten

Gebaut wird in Istanbul immer. Mehr als 15 Millionen Einwohner soll die Metropole schon haben. Aus einstigen Randbezirken sind längst Innenstadtquartiere geworden. Das hat viele Istanbul-Zuwanderer reich gemacht, die in über Nacht errichteten Hütten in der Stadt angefangen hatten. Ganze Siedlungen waren so entstanden.

Es gibt ein Sprichwort, es besagt: Istanbuls Steine und Erde seien aus Gold. Wer es weniger märchenhaft mag: Die Liebe der Türken zum Bauen sei wie die Liebe zu einer Frau. Leidenschaftlich.

Wie auch immer.

Die Boom-Jahre unter der islamisch-konservativen AKP-Regierung mit Wachstumsraten von in manchen Quartalen um mehr als zehn Prozent sind vor allem Jahre des Bau-Booms gewesen. Kaum eine andere Branche verdiente so gut. Zuletzt vibrierte der Boden Istanbuls in den 80er-Jahren so. Der AKP-Mitgründer und heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte schon in seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul versprochen, dass jeder Bürger für seine Familie eine Wohnung bekommen soll.

SZ-Serie, letzte Folge: Kapstadt (Foto: N/A)

Immer neue Hochhäuser ragen in den Himmel über Istanbul. Der im Jahr 1971 gestorbene Journalist Falih Rıfkı Atay hatte ein hübsches türkisches Wort für sie gefunden: Bulutdelen, die Wolkenbohrer.

Vor allem für die konservativen Regierungen des Landes war Neues bauen der sichtbarste Tätigkeitsnachweis, der durchschlagende Beleg, dass Staat, Stadt und Partei auch wirklich arbeiteten. Es zählt noch heute Quantität statt Qualität. Überall im Land baut der staatliche Wohnungsentwickler Toki neue Zuhause für die Mittelklasse. Bis 2023, dem 100. Geburtstag der Republik, sollen es eine Million Wohnungen sein. Mehr als die Hälfte davon steht schon.

Istanbul ist nicht eine Stadt, Istanbul ist viele Städte. Es geht damit los, dass man sich entscheiden muss, ob man auf der europäischen oder der asiatischen Seite wohnen möchte. Preislich ist die asiatische immer noch ein bisschen günstiger. Von dort aus sieht der Bosporus aber genauso umwerfend aus. In Ataşehir, auf der asiatischen Seite gelegen, wächst gerade ein komplett neues Finanzmarkt-Zentrum aus dem Boden. Ein kleines Frankfurt, nur, dass vom alten, einstigen Vorort der Stadt nicht mehr viel übrig bleibt. Auf der anderen Seite des Bosporus, eine Stunde vom Zentrum entfernt, liegt die Wohnstadt Başakşehir. Dort hat sich die sehr fromme, aufstiegsorientierte neue AKP-Mittelschicht eingerichtet. Hinter Mauern und Zäunen, behütet von Wachmännern.

Irgendwo in dieser Stadt findet jeder seinen Platz zum Leben. Es vergeht kaum eine Werbepause im Fernsehen, ohne dass darin für ein neues Quartier geworben wirbt. Auch Makler Bircan beobachtet, wie es viele der alteingesessenen Familien nach und nach aus dem Stadtzentrum raus zieht, weil sie lieber Spielplätze für ihre Kinder wollten und Parkplätze für ihre Autos.

Je weiter man rauszieht, desto erschwinglicher ist auch der Traum von der eigenen Wohnung, dem eigenen Haus. Der Makler bringt es auf die einfache Formel: Eine Stunde fahren, halber Preis. Er selbst hockt jeden Tag eine Stunde im Auto.

Er hat mitbekommen, wie rasant sich auch sein Innenstadtviertel verändert. Wenn ein altes Haus abgerissen wird, wächst eine Wohnanlage nach. Luxus hinter Mauern. Mit Gegensprechanlage und Security. Die Bewohner wollten das so.

Auf der Strecke bleibt dabei allerdings die Nähe zum Nachbarn. "Die Menschen werden sich fremder", beobachtet der Makler. "Nachbarn kennen sich nicht mehr." Er bedauert das. Aber sein Job ist es, Wünsche zu erfüllen. Auf die Großartigkeit des Blickes konnten sich bislang immer noch alle verständigen.

Die SZ berichtet in dieser Serie in loser Folge über den Wohnungsmarkt in den wichtigen Metropolen der Welt. Bisher sind erschienen: Madrid (23. 10.), Peking (30. 10.), Rio de Janeiro (6. 11.), Sydney (13. 11.), London (20. 11.), Tokio (27. 11.), Wien (11. 12.),Goma (2./3. 1.), Tel Aviv (8. 1.), Paris (15. 1.), Brüssel (22. 1.), New York (29. 1.), Vancouver (5. 2.), Zürich (12. 2.), Rom (26. 2.), Moskau (4. 3.) und Stockholm (1. 4.)

© SZ vom 06.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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