SZ-Serie: Die großen Spekulanten (35):Eine ehrliche Haut

David Ricardo verdiente vor 200 Jahren ein Vermögen als Börsenhändler. Danach nutzte er sein Geld, um die Ökonomie zu revolutionieren.

Nikolaus Piper

David Ricardo gehört zu den Ökonomen, deren Terminologie in die Alltagssprache der Politik eingegangen ist. Jedes Land müsse seine "komparativen Kostenvorteile" nutzen, sagt jemand, der sich für den Freihandel einsetzt. Und gelegentlich spricht einer sogar von "ricardianischer Äquivalenz", wenn er sagen will, dass heutige Staatsschulden die Steuern von morgen sind.

SZ-Serie: Die großen Spekulanten (35): Deutsche Börse

Deutsche Börse

(Foto: Foto: dpa)

Marx und Friedman beeinflusst

Nach Adam Smith ist David Ricardo (1772 bis 1823) der für die Geschichte zweitwichtigste der klassischen Ökonomen. Er legte als Erster ein umfassendes Modell für die Einkommensverteilung im Kapitalismus vor, er entwickelte eine präzise Außenhandelstheorie und die Grundlagen der modernen Geldtheorie. Mit seinen Konzepten beeinflusste er so unterschiedliche Ökonomen wie Karl Marx und Milton Friedman. Trotzdem war die Wirtschaftswissenschaft erst Ricardos Zweitberuf.

Zunächst einmal machte er Karriere als Börsenhändler. Die Ricardos waren sephardische Juden aus Portugal, die im 17.Jahrhundert vor der katholischen Inquisition zunächst nach Livorno (Italien) flohen und dann in die Niederlande zogen. Davids Vater Abraham Ricardo verdiente sein Brot zunächst an der Amsterdamer Börse, 1760 zog er mit seiner Frau Abigail nach London. Er wurde britischer Staatsbürger und erwarb einen Platz an der Londoner Börse. David wurde am 18. April 1772 als drittes von insgesamt 17 Kindern der Familie Ricardo geboren. Er ging zunächst in eine jüdische Schule in London; von seinem elften bis zum dreizehnten Lebensjahr lebte er in Amsterdam, wo ihn ein Onkel in die Geheimnisse des Börsenhandels einweihte. Zurück in London fing David, ganze 14 Jahre alt, im Unternehmen seines Vaters als Händler an.

Damals gab es in London zwei Typen von Börsenhändlern: Stockbroker handelten im Auftrag ihrer Kunden mit Wertpapieren, Stockjobber arbeiteten separat auf eigene Rechnung. Sie durften, im Gegensatz zu Brokern, auch auf steigende und fallende Kurse wetten - also Geschäfte tätigen, die man heute Futures nennt. Aufgrund antikapitalistischer Gesetze war der Aktienhandel in England im 18. Jahrhundert stark eingeschränkt, die meisten Wertpapiere an der Londoner Börse waren daher Staatsanleihen.

Durch und durch erfolgreich

Ricardo muss von Anfang an viel Erfolg gehabt haben, sonst wäre die herausragende Position des Drittgeborenen in der Firma des Vaters nicht zu erklären. Sein Bruder Moses schrieb später: "Sein umfassendes Wissen über die ganze Kompliziertheit des Geschäftes, sein überraschendes Tempo im Umgang mit Zahlen und Rechnungen, seine Fähigkeit, Dinge ohne sichtbare Anstrengung zu verstehen, die enormen Transaktionen, mit denen er befasst war, seine kühle Überlegtheit, unterstützt sicher auch durch für ihn günstige öffentliche Ereignisse, setzten ihn in die Lage, seine Zeitgenossen an der Börse weit hinter sich zu lassen." Schon damals fiel Ricardos besonderes Talent zu abstraktem Denken auf.

Einer der wichtigsten Einschnitte in seinem Leben kam 1793, als Ricardo 21 Jahre alt war: Er verliebte sich, und zwar in Priscilla Wilkinson, ein Mädchen aus dem Stadtviertel, in dem die Ricardos lebten. Die Wilkinsons waren Quäker, eine christliche Gemeinschaft, die auf Dogmen verzichtet und für religiöse Toleranz eintritt. Ähnlich wie die Juden waren die Quäker damals Außenseiter in der englischen Gesellschaft, trotzdem lehnten die Wilkinsons ebenso wie die Ricardos eine Hochzeit über Glaubensgrenzen hinweg ab; David und Priscilla wurden von ihren Familien verstoßen. Während es Hinweise darauf gibt, dass sich David mit seinem Vater kurz vor dessen Tod versöhnte, blieb das Verhältnis zu Priscillas Vater bitter.

In der Liebesgeschichte von David und Priscilla gibt es eine Episode, die tiefen Einblick in das Denken von Ricardo bietet. Das Ehepaar nannte den erstgeborenen Sohn Osman. Ricardos Biograph John Henderson erklärt die ungewöhnliche Namenswahl so: Ihre ersten Liebesbriefe unterzeichneten die späteren Eheleute mit Pseudonymen. David nannte sich "Osman", Priscilla war "Jesse". Osman ist die anglisierte Version von Orosmane, dem Helden aus Voltaires Tragödie "Zaire". Kern der Handlung: Sultan Orosmane ist bereit, sein Reich, seinen Harem und den Islam aufzugeben, nur um die christliche Sklavin Zaire zu heiraten. "Jesse" dürfte von Jessica abgeleitet sein, der Tochter des Shylock. In die Figur dieses Geldverleihers aus dem "Kaufmann von Venedig" hatte William Shakespeare die antijüdischen Vorteile seiner Zeit projiziert. Die Botschaft des Namensspiels war klar: David und Priscilla waren von den Idealen der Aufklärung erfüllt, sie wollten die Schranken von Tradition und Religion überwinden.

Lesen Sie weiter: Wie ein von Ricardo geführtes Konsortium im Jahr 1807 erstmals den Auftrag erhielt, Staatsanleihen am Markt zu platzieren.

Eine ehrliche Haut

Für David Ricardo bedeutete der Bruch mit dem Vater, dass er sich wirtschaftlich auf eigene Füße stellen musste. Das Börsengeschäft in London wurde am Ende des 18. Jahrhunderts völlig durch die napoleonischen Kriege und deren finanzielle Folgen bestimmt. Der englische Premierminister William Pitt finanzierte den Krieg gegen Frankreich zur Hälfte mit neuen Schulden. Zu diesem Zweck gab er Anleihen mit ewiger Laufzeit aus. Diese sogenannten Consols wurden niemals fällig, die Schuld konnte nur dadurch abgelöst werden, dass die Regierung die Consols zurückkaufte. Außerdem bestand Pitt darauf, dass die Anleihen einen gleichbleibenden Nominalzins von drei Prozent hatten, was notwendigerweise extreme Kursausschläge zur Folge hatte.

Ricardos Erfolgsrezept bestand nun darin, kurzfristige Ereignisse, vor allem Siege oder Niederlagen der britischen Armee, bei seinen Investitionsentscheidungen zu ignorieren. Ein Zeitgenosse schrieb: "Ricardo sagte immer, er habe sein Geld dank der Beobachtung gemacht, dass die Menschen im Allgemeinen die Bedeutung kurzfristiger Ereignisse überschätzen." Außerdem war er ehrlich, er streute keine Gerüchte und beteiligte sich nicht an Durchstechereien. Deshalb bekam ein von Ricardo geführtes Konsortium von Börsenhändlern im Jahr 1807 erstmals den Auftrag, Staatsanleihen am Markt zu platzieren; zuvor hatte das Schatzamt damit ausschließlich etablierte Banken beauftragt. Ricardo wurde also, in modernem Sprachgebrauch, auch Investmentbanker. Nach Zahlen, die der Ökonom Piero Sraffa in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zusammenstellte, erzielte Ricardo mit seinen Investitionen die niedrigste Rendite 1802 mit 3,8 Prozent, die höchste 1798 mit 6,3 Prozent.

1815, als Napoleon nach St. Helena verbannt wurde, konnte sich Ricardo mit einem Vermögen von 700.000 Pfund zur Ruhe setzen. Eine Feinunze Gold kostete damals vier Pfund. Wenn man einen Goldpreis von 500 Dollar unterstellt (und damit die Spekulation der vergangenen zweieinhalb Jahre außer Acht lässt) würde dies heute 62,5 Millionen Euro entsprechen. Ricardo legte sein Geld in Immobilien an, unter anderem erwarb er das Anwesen Gatcombe Park, in dem heute Prinzessin Anne, die Tochter von Königin Elizabeth II. lebt.

Nun begann Ricardos zweite Karriere. Auf die politische Ökonomie war er 1799 eher zufällig gestoßen, als er sich mit seiner Frau in dem Kurort Bath aufhielt und dort in einer Leihbücherei ein Exemplar von Adam Smiths Werk "Wohlstand der Nationen" entdeckte. Ricardos erstes großes Thema als Ökonom hatte direkt mit seiner früheren Arbeit als Broker zu tun. Während der Kriegsjahre wurde England von einer schlimmen Teuerung heimgesucht. Die Experten waren sich uneins über deren Ursachen: Die einen - in heutiger Sprache die "Nachfragetheoretiker" - glaubten, die Kosten des Krieges hätten die Krise verursacht. Die anderen, die "Angebotstheoretiker", sagten, es sei einfach zu viel Geld im Umlauf.

Der erste Monetarist

Ricardo schlug sich auf die Seite der zweiten Gruppe und gab mit seinen Argumenten den Ausschlag: Die Bank von England habe die Bindung an den Goldstandard gelöst und zu viele Banknoten gedruckt. Das habe zum Abfluss von Gold und zu steigenden Preisen geführt. Ricardo wurde so zum ersten Monetaristen. Später schlug er vor, den Geldumlauf durch eine unabhängige Zentralbank kontrollieren zu lassen - eine Idee, die in seiner Heimat erst zwei Jahrhunderte später verwirklicht werden sollte.

Zu seinem wichtigsten Gegner im Währungsstreit, dem Ökonomen Thomas Malthus, entwickelte Ricardo eine tiefe und anhaltende Freundschaft. Der Briefwechsel der beiden gehört zu den wichtigsten Dokumenten der Theoriegeschichte. Ricardo wurde für die Liberalen ins Unterhaus gewählt. Er kämpfte für die Gleichstellung der Katholiken, für geheime Wahlen und vor allem für die Abschaffung der Korngesetze, die die Einfuhr ausländischen Getreides beschränkten. Die Begründung leitete er aus seiner Einkommenstheorie ab: Je knapper der Boden in einem Land, desto höher die Rente der Grundbesitzer und desto geringer die Gewinne der Unternehmer und desto geringer auch das Wirtschaftswachstum.

In der Auseinandersetzung um die Korngesetze entstand auch seine Außenhandelstheorie. Dabei versuchte er nachzuweisen, dass Außenhandel auch dann sinnvoll ist, wenn ein Land durchgehend billiger produziert als ein anderes. In seinem berühmten Beispiel hat Portugal gegenüber England sowohl bei der Produktion von Wein als auch von Tuchen absolute Kostenvorteile. Weil aber der Kostenvorteil bei Wein noch größer ist als der bei Tuchen, ist es sinnvoll, wenn Portugal sich darauf spezialisiert, England dagegen auf die Produktion von Textilien. England hat bei Tuchen einen "komparativen Kostenvorteil", vom Außenhandel profitieren beide. Die meisten Politiker, die heute von "komparativen" Kostenvorteilen reden, meinen allerdings meist absolute Kostenvorteile.

David Ricardo starb 1823 mit nur 51 Jahren an den Folgen einer Mittelohrentzündung. 23 Jahre nach seinem Tod wurden die Korngesetze tatsächlich abgeschafft.

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