Straßen in München:Giselherstraße

Die Giselherstraße ist gut für Neu-Münchner: Wohnung mit Balkon, U-Bahn und Park. Nur: Wer will sich auf Dauer so hoch stapeln?

Jutta Göricke

Morgens gegen vier machen die Vögel Krawall, kurz nach fünf hört man durch die Bebauungslücke zur Schleißheimer Straße die erste Tram. Irgendwo in der Nachbarschaft wohnen zwei Lkw-Fahrer. Die bringen ihr Gefährt von der Arbeit mit heim, damit sie in der Früh gleich wieder loslegen können, natürlich nicht, ohne vor dem Anfahren den Dieselmotor tüchtig warm laufen zu lassen. Einer um sechs, der andere eine halbe Stunde später. Dann die Großbaustelle drei Häuser weiter. Dort fielen bis vor kurzem ab sieben die Betonmischer ein, dicht gefolgt von einem Hauswart, der im Sommer mit einem benzingetriebenen Kantenschneider, im Herbst mit einem röhrenden Laubsauger und im Winter mit einer scheppernden Schneeschaufel den Quälgeist gibt. Zwar wird es danach allmählich ruhiger, sieht man mal von dem anschwellenden Verkehrslärm auf der Schleißheimer Straße ab. Aber dann ist man eh schon wach, und zur Arbeit muss man auch.

Straßen in München: Freiluft-Variantionen in der Giselherstraße.

Freiluft-Variantionen in der Giselherstraße.

(Foto: Foto: privat)

Den Feierabend verbringt man, wenn es warm genug ist, mit einem Glas Weißwein auf seinem Balkon und starrt auf die gegenüber liegenden Balkonreihen, die zehn Stockwerke hoch in den rosa Abendhimmel ragen und weder links einen Anfang noch rechts ein Ende haben.

Wer jetzt hämisch grinst oder in gönnerhaftes Mitleid verfällt, ist ein Unerfahrener, ist ein Blasierter, ist der Besitzer einer riesigen Altbauwohnung mit sagenhaften Flügeltüren, endlosen Bücherwänden, Terrazzoboden in der Küche, Eichenparkett im Wohnzimmer und Südterrasse mit Baumblick. Das Ganze in ruhiger Umgebung, aber doch zentral.

Leben im Karton

Aber er ist garantiert kein Neu-Münchner. Dann wüsste er, was Demut heißt. Dann lernte er zu schätzen, einen Balkon, eine Wohnung überhaupt zu haben, selbst wenn sie die Ausmaße und Ausstattung eines Schuhkartons hat, überhaupt eine Straße zu haben, in der er allabends in seinen eigenen Schuhkarton findet.

Infrastruktur stimmt

Die Giselherstraße ist eine Anfängerstraße. Für Leute, die ganz schnell eine praktische Behausung brauchen. U-Bahn, Tram und ein Supermarkt um die Ecke. Im Rücken der Luitpoldpark zum Joggen, wo man auf Rainer Harem Langhans trifft, der allen Ernstes einen weißen Trainingsanzug trägt. Nach vorne raus die Ausfallstraße zum Befahren, wo die Dame mit der rosa getönten Brille an der Tramhaltestelle wartet.

Lähmende Idylle

Die Häuser der Giselherstraße sind bleu, beige, rosé und pastellgelb, so sie aus den Fünfzigern stammen. Die aus den Sechzigern und Siebzigern haben Flachdächer und sind ocker. Die Vorgärten sind passend dazu möbliert, mit Knallerbsensträuchern und Teppichstangen.

Es kam einem Schock gleich, als die Kreissägen nebenan plötzlich verstummten und aus der Großbaustelle neue, bezugsfertige Schuhkartons wurden. Aus zweijähriger Erstarrung erwacht, brach ich in Aktionismus aus. Bloß weg hier, bevor es wieder entkräftet. Auf zu neuen Ufern. Die Kartons sind schon gepackt.

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