Sehnsucht nach starkem Staat:Was die Not lehrt

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Das vormals so laute Geschrei nach freien Märkten ist verstummt: Aus der Staatsverspottung ist eine Staatsvergötterung geworden. Doch die Krise kann nur bekämpft werden, wenn der Staat mehr sein wird als ein nützlicher Idiot.

Heribert Prantl

Bis vor kurzem gab es Leute, die einen höchst merkwürdigen Traum träumten. Sie wollten den Staat ganz klein schrumpfen - so klein, dass sie ihn "ins Badezimmer schleppen und in der Badewanne ersäufen" können. Diesen Traum vom staatsbefreiten Markt, es war ein amerikanischer Traum, erzählten sie feixend in den Talkshows und ließen anschließend schon einmal das Wasser einlaufen.

Von Leuten dieses Schlages, von Radikal-Neoliberalen und Radikal-Steuersenkern, hat sich US-Präsident George W. Bush beraten lassen. Der Präsident hatte auch deswegen ein Ohr für sie, weil eine entfesselte und mit Ramschkrediten gedopte Immobilien-Industrie die horrenden Kosten seiner Außenpolitik innenpolitisch erträglich machte.

Nun ist der Wasserhahn abgedreht, das Badezimmer zugesperrt. In der globalen Finanzkrise träumen die einstigen Badewannen-Mörder und ihre vielen Gehilfen, die es auch in Europa gab, nicht mehr vom schrumpfenden, sondern vom wachsenden Staat, sie träumen von einem starken und hilfreichen Gemeinwesen, das sie und die maroden Banken in die Arme nimmt und ihren Bankrott abwendet. Aus der Staatsverspottung von gestern ist über Nacht eine neue Staatsvergötterung geworden. Selbst Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, macht sich zum Ministranten dieses neuen lieben Gottes, der doch bitte schnell seine guten Gaben ausschütten solle.

Die neue Lust am starken Staat

Sind die Groß-Manager konvertiert? Haben sie abgeschworen? Haben sie endlich eingesehen, dass der Neoliberalismus etwas ganz Entscheidendes verdrängt hatte: dass auch der Liberalismus von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Ohne einen starken Staat gibt es nämlich keinen Rechtsstaat, keine funktionierende Marktwirtschaft, keine Demokratie und keinen Sozialstaat, der für inneren Frieden sorgt.

Womöglich ist es aber mit dieser Einsicht nicht so weit her; womöglich ist der starke Staat von der moribunden Finanzwirtschaft in Wahrheit nur als nützlicher Idiot gefragt: Der Staat soll zunächst die angeschlagenen Flaggschiffe der Finanzwirtschaft in seine Docks schleppen und dort mit viel Geld reparieren, sie aber dann anschließend wieder in den kapitalistischen Ozean auslaufen lassen. Dann hätten die kleinen Steuerzahler die Reparatur bezahlt, und die alte Besatzung und die alten Passagiere könnten wieder auf den alten Kurs gehen.

Das wird so nicht funktionieren. Es wird nicht funktionieren, weil nicht nur das Geld, sondern auch das Vertrauen zur Finanzwirtschaft und zu ihren Protagonisten geschwunden sind. Es sind also nicht nur die Schiffe leck, es trocknet auch der Ozean aus, den diese befahren. Wenn die Bundeskanzlerin und viele andere davon reden, dass es zuallererst gelte, das Vertrauen wiederherzustellen - es kann nicht das Vertrauen in das alte gierige System sein.

Lesen Sie im zweiten Teil, wieso die Welt jetzt nach Lenin ruft - und wie die Fernsehsender die Lage beruhigen könnten.

Im alten Turbokapitalismus gab es tatsächlich eine Zeit, in der fast jeder jedem traute, weil man miteinander an die "unsichtbare Hand" des Marktes glaubte, die alles zum Besten und zum Lukrativsten wenden würde. Dieses Vertrauen war auch ein Mechanismus der Reduktion wirtschaftlicher Komplexität: Die Politik traute also der Wirtschaft, die Banken trauten einander, die Großmanager spielten sich ohnehin die Bälle zu, und auch ein großer Teil der Bürger traute diesem System, das ewiges Wachstum, billiges Geld und immer steigende Renditen versprach.

Indes: Der Krug geht nur so lange zum Brunnen, bis er bricht. Aus einem börsenboomgestützten Grundvertrauen ist nun ein börsensturzgestützes Grundmisstrauen geworden. Die Gesellschaft steht vor dem Problem, das Friedrich Hebbel in seinem Trauerspiel "Demetrius" so beschrieben hat: "Wer damit anfängt, dass er allen traut, wird damit enden, dass er jeden für einen Schurken hält." Deshalb ruft nun alle Welt nach strenger Kontrolle und nach strengen Regeln. Deshalb folgt jetzt jeder dem Lehrsatz, der Lenin zugeschrieben wird: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser."

Das ist ein heikler, ja ein bedrohlich totalitärer Spruch. Wenn er derzeit trotzdem richtig ist, dann indiziert das die Gefährlichkeit der Lage. Verträgliche Zustände werden erst dann wieder einkehren, wenn wieder das Umgekehrte gilt: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Vertrauen, nicht Kontrolle ist nämlich das Band der Gesellschaft. Dieses Band ist zerrissen - und die Spitzenpolitiker der Welt halten in ihren G-7- und sonstigen Konferenzen die einzelnen Stücke in der Hand und überlegen, was sie jetzt damit anfangen sollen.

Gib dem Staat was des Staates ist

Not lehrt beten, hieß es früher. In den Zeiten größter Not waren deshalb stets die Kirchen voll. Die Not von heute lässt erst einmal den Glauben an den Staat, an die Gemeinschaft der Staaten und ihre Bündnisse und Organisationen wieder wachsen; der Staat und die Staaten werden wieder zum Vertrauensanker - weil sie es sind, die Regeln setzen, aussetzen, neu machen und hoffentlich auch durchsetzen können. Es ist dies kein irrationales Vertrauen. Der staatliche Anker ist ja nicht Fiktion, sondern vorhanden. Der Staat hat ihn aber oft genug in den Sand geworfen in den vergangenen Jahren. Er hat sich in bisweilen unverantwortlicher Weise an die Wirtschaft ausgeliefert. Bund, Länder und Gemeinden haben sich verkauft, und dies mit dem Begriff "Public Private Partnership" getarnt.

Die Großstädte haben ihre Unternehmungen, darunter Straßenbahnen, Wasserversorgung und Kanalnetze, an Investoren ausgeliefert, von denen etliche zu den globalen Groß-Pleitiers der Finanzkrise zählen. Die Kommunen haben sich hier mit seltsamen Leasing-Verträgen einem Markt ausgeliefert, den sie nicht überblicken konnten und können. Dutzende Stadtkämmerer wissen daher nicht, was im Gefolge der Finanzkrise auf sie und ihre Bürger zukommt. Die Not lehrt die Politik nun, dem Staat wieder zu geben, was des Staates ist - und die ehemals städtischen Versorgungsbetriebe wieder der demokratischen Mitbestimmung zuzuführen. Die Entstaatlichung der Daseinsvorsorge war eine Gefahr für die Demokratie, weil niemand mehr mit seiner Stimme Einfluss darauf nehmen konnte, was dort passiert; das entschied im schlimmsten Fall eine Briefkastenfirma auf den Kaimaninseln. Das kann nicht länger so sein.

Ein kleines Lob der großen Krise

Die große Krise öffnet also die Augen dafür, was falsch gemacht worden ist und auch dafür, wie man sich in Deutschland hat ins Bockshorn jagen lassen - zum Beispiel von der EU-Kommission, die am liebsten das System der Sparkassen schon längst zerschlagen hätte, weil es angeblich nicht in das EU-Bild vom freien Wettbewerb passt; jetzt gelten die beschmunzelten Sparkassen als Hort der Stabilität in der Großkrise.

Es ist Zeit für die Abkehr von dem kapitalen Fehldenken, das zur Finanzkrise geführt hat. Es gibt Symbolhandlungen, mit denen man das deutlich machen kann: Die Fernsehsender zum Beispiel könnten die elektronischen Laufbänder abschalten, die in Endlosschleife auf dem Bildschirm die Börsenkurse einblenden. Das Ende der Börsenticker wäre ein Zeichen für das Ende des Börsenticks.

© SZ vom 11.10.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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