Risiken der Finanzwelt:Wie ein Fisch an Land

Menschen sind seit Urzeiten zur Spekulation bereit - auch wenn der Einzelne verliert. Wissenschaftler suchen Rezepte, mit denen die Finanzwelt die Risiken begrenzen kann.

Markus Zydra

Andreas Hackethal kann gut erzählen. Der 38-jährige Wirtschaftsprofessor der Frankfurter Goethe Business School hat eine sympathische Stimme und beherrscht die Kunst, Pointen zu setzen. Meist bindet er sein Publikum mit ein. So auch jetzt, als er folgende Frage auf die Leinwand projiziert:

Maria ist eine ruhige, fleißige, sehr umweltbewusste Person. Sie hat in Heidelberg englische Literatur und Soziologie studiert. Welche der folgenden drei Optionen ist am Wahrscheinlichsten?

1. Maria ist Bibliothekarin.

2. Maria ist Bibliothekarin und Mitglied bei Greenpeace.

3. Maria arbeitet als Finanzberaterin.

Nach einer kurzen Bedenkzeit bittet das Publikum um Handzeichen und grinst, als er das Mehrheitsvotum sieht - so als wollte er sagen: "Immer derselbe Fehler". Das sagt er natürlich nicht, aber sein milder, fast resignierter Gesichtsausdruck verrät ihn. Die meisten Befragten im Saal haben angegeben, dass Maria sehr wahrscheinlich Bibliothekarin und Greenpeace-Mitglied ist - doch das, sagt der Professor, sei falsch. Sie sei Bibliothekarin oder Finanzberaterin, beides sei gleich wahrscheinlich. Hackethal kennt das Problem: "Viele sehen bei solchen klassischen Fangfragen ein Muster, wo keines ist."

Es ist ein Phänomen, das Hackethal fasziniert: Menschen schätzen Wahrscheinlichkeiten und damit Risiken falsch ein. Natürlich geht es hier, bei der Herbsttagung des E-Finance-Lab, bei der überwiegend Vertreter der Finanzindustrie im Saal sitzen, nicht um Maria. Sondern um die Lehren aus der Finanzkrise, um die Fehleinschätzungen der Akteure auf dem Kapitalmarkt, genauer gesagt, um die Frage, warum private Anleger immer wieder unnötig hohe Verluste mit Aktien machen - was Hackethal an diesem Tag dann auch mit Forschungsergebnissen belegt. Denken die Leute falsch, denken sie überhaupt?

Berater? Welcher Berater?

An beidem ist wohl etwas dran. Aber Hackethals Forschungsergebnisse zeigen noch etwas anderes: Nämlich, dass Sparer auch von Profis wenig Hilfe zu erwarten haben. "Wenn der Kunde zum Bankberater kommt und Geld anlegen will oder der Berater zuhause anruft, dann bringt das erfahrungsgemäß meist nichts", sagt der Professor. Das hätten Vergleiche von Kundendepots gezeigt, zwischen Depots, bei denen die Anleger beraten wurden, und solchen, über deren Zusammensetzung sie allein entschieden haben. "Beide Depots schneiden ähnlich schlecht ab". Ein vernichtendes Urteil.

Was läuft falsch in der Finanzwelt? Thorsten Hens schaut vergnügt durch seine Nickelbrille, als er die Frage vernimmt. Der 48-jährige Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Zürich hat eine klare Antwort. "Nichts läuft falsch, die Menschheitsgeschichte ist ohne Auf und Ab nicht denkbar", sagt Hens. Es werde deshalb weitere Finanzkrisen geben.

Seit einigen Jahren schauen Hens und sein Forscher-Team den Menschen ins Gehirn. Neuro-Finance nennt sich dieser immer populärere Wissenschaftszweig. Probanden spielen Poker, dabei werden ihre Gehirnströme gemessen. Und so haben die Züricher Forscher entdeckt, dass "die Menschen in der Evolutionsgeschichte schon immer Zocker waren, und das ist gut so", sagt Hens. Denn, so erklärt er: "Zocken, das Experimentieren mit Ideen und Strategien, ist gut für die Gesamtgesellschaft, weil es den Fortschritt vorantreibt. Für den Einzelnen geht die Zockerei jedoch meist in die Hose."

Ein erschreckendes Ergebnis

Seit zwei Jahren, immer Mittwoch nachmittags trifft sich das Team des Finanzwissenschaftlers im Züricher Kinderspital in der Steinwiesstraße. Hier hat Hens einen Raum angemietet, in dem ein Tomograph steht. Mit dem Gerät kann man Gehirnströme messen. Jede Woche wird ein männlicher oder weiblicher Proband für eine halbe Stunde in eine enge Röhre geschoben. Darin eingepfercht sieht der Freiwillige auf einem Bildschirm eine Spielkarte, er muss dann wetten, ob die nächste Karte höher oder niedriger ist. Dazu drückt er einen Sensor. Das Spiel wird mehrfach wiederholt.

Während der Spieler darüber brütet, ob nun wohl zum vierten Mal eine höhere Karte aufgedeckt wird, messen die Wissenschaftler mit der so genannten funktionalen Magnetresonanz-Tomographie den Energieverbrauch in den einzelnen Hirnregionen. Sie sehen so, in welchem Hirnbereich der Zocker arbeitet. Und dabei hat das Team eine erstaunliche Erkenntnis gewonnen.

"Beim Zocken wird das ventrale Striatum aktiviert", erklärt Hens' Kollegin Kerstin Preuschoff. "Das gehört zu den evolutionstechnisch betrachtet älteren Hirnarealen." Daraus lässt sich ableiten, dass die Menschen schon seit Urzeiten darauf konditioniert sind, zu spekulieren, denn sonst wären andere Hirnregionen aktiv. "Das war ein ziemlich erschreckendes Ergebnis, weil ich dachte, wir hätten Gefühle, um so etwas zu kontrollieren", sagt Hens.

Gehirn noch nicht optimiert

Doch die Evolution der Menschheit steht in Finanzdingen erst am Anfang. "Manche Verhaltensweisen und Reflexe, die für das Leben in der Wildnis sehr nützlich sind, sind in Bezug auf Finanzentscheidungen eher schädlich", sagt seine Kollegin Preuschoff. Das Gehirn sei für Finanzentscheidungen im Zuge der Evolution noch nicht optimiert.

Lange ging die Finanztheorie davon aus, dass der Mensch rational sei und der Markt effizient. Doch die Behavioural-Finance-Forschung zeigte auf, dass Menschen Risiken falsch einschätzen und sich treiben lassen von der Entscheidung anderer. Wenn zwei Restaurants nebeneinanderliegen, das eine halbvoll und das andere leer, dann meiden Menschen das leere Lokal. Vernunft und Effizienz oder Irrationalität und Marktversagen, was gilt denn nun?

"Beides ist richtig", sagt Hens. "Manchmal stimmt das eine, manchmal das andere, manchmal eine Mischung daraus." Wirtschaft sei ein dynamischer Prozess, ein stabiles Gleichgewicht könne es da kaum geben. "Die Umwelt verändert sich ständig - politisch, ökonomisch, psychologisch. Und Menschen versuchen, sich auf Basis ihrer Erfahrungen irgendwie zurechtzufinden", sagt Hens. Hat der Anleger Aktiengewinne gemacht, dann kaufe er weiter Aktien - bis er irgendwann verliert.

Man stelle sich einen Fisch vor, der an Land wild mit der Hinterflosse zappelt. Das wirkt komisch, doch das Tier hat gelernt, dass es mit dieser Strategie vor Feinden fliehen kann - normalerweise, im Wasser. "Doch wenn sich die Ökologie ändert, funktioniert es nicht mehr", sagt Hens. "So läuft es auch an der Börse, deshalb kann es die perfekte Anlagestrategie gar nicht geben."

Das sind keine guten Nachrichten für jene, die ihr mühsam verdientes Geld möglichst profitabel anlegen wollen. Doch was sollen sie tun? Sind die Tipps der Anlagenprofis allesamt nicht das Papier wert, auf dem sie stehen? Können die Kunden ihren Bankberatern noch vertrauen? Beide Seiten sollten ihr Verhalten überdenken, sagt der Frankfurter Wirtschaftsprofessor Hackethal, der regelrecht in Rage geraten kann, wenn er an die Beratungsmisere an deutschen Bankschaltern denkt. "Kunden und Berater machen sich etwas vor", klagt er.

Rückbesinnung auf den Kern der Beratung

Der Kunde frage häufig, welche Aktie demnächst steige, der Berater gebe eine Antwort. "Dabei weiß niemand, welche Aktien steigen. Der Berater sollte aufhören, solche Prognosen abzugeben, und der Kunde sollte aufhören, die Berater danach zu fragen", fordert Hackethal. Vielmehr müssten sich die Finanzinstitute endlich auf das besinnen, was Beratung eigentlich sein soll: Sorgfältige Bestandsanalyse, Aufzeigen der Möglichkeiten und Bewertung der Risiken.

"Der Finanzberater muss drei Fragen beantworten", sagt Hackethal: "Wie viel Risiko will ich als Kunde, welches Risiko trage ich gerade, und verdiene ich genug Rendite angesichts meines Risikos?" Das klingt sehr technisch, doch im Kern geht es darum, ob das Preis-Leistungsverhältnis stimmt. Risiko lässt sich mathematisch messen, indem man historische Kursschwankungen von Aktienfonds untersucht. "Dann zeigt sich, was die Finanzberatung geleistet hat. Wenn sie gut ist, kann die Bank damit werben und Kunden gewinnen", sagt der Wissenschaftler.

Jede Katastrophe folgt anderen Mustern

Doch von dieser Orientierung am Kunden seien die Banken weit entfernt, glaubt Hackethal. Um das zu illustrieren, erzählt er in Frankfurt vor dem versammelten Auditorium eine Anekdote. "Neulich traf ich einen Bankmanager mit jahrzehntelanger Erfahrung im Privatkundengeschäft", berichtet der Universitäts-Dekan. "Der sagte mir, dass er sich in dieser Zeit nicht einmal gefragt habe, welchen Nutzen er für seine Kunden stifte." Hackethal macht eine Pause, um die Überraschung wirken zu lassen. "Die Finanzindustrie", sagt er dann, "orientiert sich in ihrem Wettbewerbskampf nicht unbedingt am Kundennutzen."

Die Finanzkrise hätte freilich nie ein so verheerendes Ausmaß erreicht, wenn die Banken nicht auch bei ihren eigenen Anlageentscheidungen so gründlich daneben gegriffen hätten. Wolfgang Hartmann war dabei, als es geschah. Der 60-Jährige ist ein Banker, wie man ihn selten trifft. Direkt, unprätentiös, der absolute Gegenentwurf zum Bild des gierigen Bankers. Vielleicht hängt das auch mit seinem früheren Beruf zusammen. Von 2000 bis Frühjahr 2009 leitete Hartmann bei der Commerzbank als Vorstandsmitglied das Risikomanagement. Ein Job, der gewisse Ähnlichkeiten mit der Rolle des immerfort skeptischen Mr. Spock aus der TV-Serie Raumschiff Enterprise hat.

Aufgabe des Risikovorstands ist es, zu bremsen, wenn andere Gas geben wollen. Damit eckt man intern an, denn Bremsen bedeutet weniger Umsatz. "In den Aufsichtsräten der Banken wird wenig über Risiken geredet", sagt Hartmann. Ein großer Fehler, wie sich gezeigt hat. Und daraus müssten nun die Lehren gezogen werden. "Großbanken sind vergleichbar mit Atomkraftwerken, deshalb muss sich das Risikobewusstsein ändern", sagt Hartmann. "Sonst gibt es weitere Finanzkrisen."

Er selbst will an der Verbesserung mitwirken. Der frühere Bankmanager, der von sich selbst sagt, er habe sich schon während des Studiums für Wahrscheinlichkeitsrechnungen begeistert, hat das erste deutsche Executive Masterprogramm für Risikomanagement ins Leben gerufen. "Professionelles Risikomanagement ist das Herz einer Bank", sagt er. Die Manager müssten nicht nur fachlich überzeugend sein, sie müssen auch mit vielfältigen Widerständen umgehen können. "Der Druck auf den Vorstand ist groß, finanzielle Erfolge zu verkünden. Da möchte keiner ohne Not Risiken an die Aufsicht oder die Öffentlichkeit melden." Das Risikomanagement müsse deshalb aufgewertet werden. "Doch ohne die Unterstützung des Regulierers stehen die Risikomanager der Banken oft auf verlorenem Posten."

Wenig transparent und kaum vergleichbar

Ein Problem sei auch, klagt Hartmann, dass Bankbilanzen wenig transparent und kaum vergleichbar seien. Kein Außenstehender könne wirklich einschätzen, wie es den Banken geht. "Man sieht von außen als Analyst oder Aktionär nicht, wo und vor allem wie die toxischen Papiere gebucht werden." Dieser bilanzielle Wildwuchs müsse beschnitten werden.

Lehnt man sich zurück und denkt darüber nach, was Experten wie Hackethal, Hartmann und Hens empfehlen, lässt sich also Folgendes sagen: Wenn Exzesse auf dem Kapitalmarkt in Zukunft vermieden werden sollen, brauchen Sparer eine bessere Beratung, Banker eine schärfere Risikokontrolle, und das Finanzsystem eine stabilere Struktur. Doch das ist leicht gesagt, denn jede Katastrophe folgt anderen Mustern, und es sind viele kleine, zunächst kaum beachtete Details, die unvermittelt zu einem gefährlichen Mix mutieren. Vielleicht, so die These von Hens, könnten Menschen auch gar nicht anders, als immer neue Spekulationsexzesse anzuschieben, zumal durch den gesteigerten Wohlstand mehr Kapital für diese Finanzwetten zur Verfügung stehe.

Doch dann sagt Hens noch etwas anderes: Es gehe nicht darum, künftig den Bankrott einer Banken zu verhindern, man müsse ihn erträglich für das System machen. "Jedes Krankenhaus hat ein Notstromaggregat und einen PlanB für die Katastrophe. So etwas brauchen wir auch für das Finanzsystem." Das internationale Zahlungssystem müsse deshalb so aufgesetzt werden, dass die Aufsicht immer weiß, welche Bank der anderen wie viel schulde. "Das ist eine vitale Aufgabe zur Systemabsicherung, die darf man nicht der Privatwirtschaft überlassen", sagt der Züricher Wissenschaftler.

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