Neue Unisex-Tarife:Schnell noch eine Versicherung abschließen? Bloß nicht!

Als der Europäische Gerichtshof die Versicherer dazu verdonnerte, für mehr Gerechtigkeit bei ihren Policen zu sorgen, war der Aufschrei der Branche groß. Nun kommen bald die neuen Unisex-Tarife. Doch noch immer rechnen in den Konzernen die Mathematiker. Ob es teurer wird, erfahren die Kunden erst kurz vor Weihnachten.

Von Christoph Giesen

Noch vor zwei Jahren, da kannten die meisten Deutschen das Wort "Unisex" allenfalls aus der Modewelt: Unisex-Jeans, Unisex-Düfte oder Unisex-Größen. An Versicherungen dachte kaum jemand. Heute ist das anders. Fast jeder Haushalt in Deutschland hat in den vergangenen Monaten Post von Versicherungen und Maklern bekommen, man solle doch dringend überlegen, ob man nicht noch rasch eine neue Police abschließen wolle, bevor es zu spät ist. Der Stichtag, das ist in allen diesen Briefen zu lesen, ist der 21. Dezember 2012.

Der Grund für die vielen eiligen Werbesendungen ist ein Verdikt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Im März 2011 urteilten die Luxemburger Richter: Egal ob Mann oder Frau, beide Geschlechter müssen künftig gleich viel für ihren Versicherungsschutz bezahlen. Unzulässig sei es, wenn Frauen etwa für eine Unfallversicherung oder eine Risikolebensversicherung monatlich weniger an die Versicherungskonzerne überweisen als Männer - allen Motorradunfallstatistiken zum Trotz. Bei den Beitragssätzen für eine Pflegeversicherung dürften im Gegenzug künftig die Frauen nicht mehr benachteiligt werden und höhere Beiträge zahlen - bloß weil die Männer eine statistisch geringere Lebenserwartung haben.

Wird plötzlich alles teurer?

Die Europa-Richter räumten der Versicherungsbranche eine Übergangsphase bis Ende 2012 ein. Bis dahin müssen Deutschlands Versicherungen auf die sogenannten Unisex-Tarife umstellen. Versicherungen, die vor dem Stichtag abgeschlossen werden, sind vom Luxemburger Urteil ausgenommen.

Zwei Fragen hört Andreas Gernt, der Leiter des Referats Finanzdienstleistungen bei der niedersächsischen Verbraucherzentrale, nun seit Wochen: Lohnt es sich jetzt noch rasch eine Pflegeversicherung oder eine Lebensversicherung abzuschließen, bevor die Tarife steigen? Und vor allem: Wird plötzlich alles teurer?

Andreas Gernt rät zur Gelassenheit. "Seit dem Sommer beobachten wir eine regelrechte Schlussverkaufsstimmung der Versicherer", sagt er. "Statt auf die Schnelle noch eine Versicherung abzuschließen, sollte man lieber seinen Bedarf prüfen und vergleichen." In einzelnen Versicherungsbereichen gebe es Preisunterschiede von bis zu 100 Prozent zwischen zwei Anbietern. "Wer voreilig einen Vertrag unterschreibt und nicht vergleicht, macht womöglich ein viel schlechteres Geschäft, als wenn er später einen Unisex-Tarif abschließt."

Wie genau sich die Tarife nach dem 21. Dezember verändern werden, sei sehr schwer zu prognostizieren, sagt Gernt. "Die Unisex-Umstellung wird sicherlich zu Veränderungen für Männer und Frauen führen. Abschließend beurteilen können wir die neuen Tarife aber erst, wenn sie allesamt vorliegen." Und werden die Beiträge also nun flächendeckend steigen? "Der Wettbewerb zwischen den Versicherungen wird bleiben - auch nach der Umstellung auf Unisex-Tarife", ist sich Gernt sicher.

Die Versicherungen rechnen noch

Obwohl die Umstellung in gut zwei Wochen zu erfolgen hat, haben erst wenige Versicherungen ihre neue Tarifstruktur veröffentlicht. "Wir rechnen im Moment einfach noch", sagt Bernd Goletz von der Continentale Krankenversicherung. "Normalerweise berechnen unsere Versicherungsmathematiker etwa ein bis zwei neue Tarife im Jahr. Die komplette Tarifpalette innerhalb weniger Monate neu zu berechnen, das kommt sehr selten vor."

Seit dem EuGH-Urteil leisten die Mathematiker in vielen Versicherungen Überstunden. Alleine bei der Continentale müssen etwa 20 Tarife neu kalkuliert werden. "Fast alle Personenversicherungstarife müssen unsere Leute sich ansehen. Von der Zahnzusatzversicherung bis hin zur Pflegeversicherung", sagt Gobletz. "Wir werden auf den letzten Metern fertig sein."

Wie der Continentale geht es auch den meisten anderen Versicherern. Das EuGH-Urteil hat in den Vorstandsetagen der deutschen Versicherungshäuser für jede Menge Anspannung gesorgt. "Dass wir kurz vor dem Stichtag mit unseren neuen Tarifen herauskommen, hat keine taktischen Gründe. Wir rechnen wirklich alle noch", sagt Gobletz. "Ich bin mir sicher, niemand hält die Tarife absichtlich zurück etwa aus Angst vor der Konkurrenz. Um einfach etwas zu kopieren, dafür ist die Zeit zu knapp."

Manch altgedienter Versicherungskaufmann ruft den jüngeren Kollegen ein gelassenes "back to the roots" - zurück zu den Wurzeln - zu. Noch vor 35 Jahren kalkulierten Deutschlands Versicherungen ihre Lebensversicherungen anhand der männlichen Sterbetafeln. Bis Mitte der 1980er behalfen sich dann viele Konzerne notdürftig mit Beispielrechnungen aus dem Ausland. Erst seit 1987 berücksichtigen sie auch weibliche Sterbetafeln.

So einfach, wie es sich mancher Verkäufer macht, ist es in der Realität leider nicht. Versicherungspolicen basieren auf hochkomplexen Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Je mehr Statistiken die Finanzmathematiker in ihre Berechnungen aufnehmen können, desto präziser werden ihre Modelle. Durch das EuGH-Urteil haben sie einen aussagekräftigen Faktor eingebüßt und müssen nun mit neuen statistischen Werten experimentieren.

Bricht deshalb nach dem 21. Dezember das Chaos aus? "Chaos ist deutlich übertrieben", sagt Gobletz. "Es wird aber vermutlich ein Weilchen dauern, bis wieder Transparenz in der Branche herrscht." Makler und Versicherungsvertreter müssten sich erst einmal in die neuen Tarife einarbeiten, die unzähligen Vergleichsrechner im Internet müssen mit den neuen Zahlen und Daten bestückt werden. Eine neue private Krankenversicherung sollte man daher in den ersten Tagen nach der Umstellung besser nicht abschließen.

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