Neue Serie:Abschied von der guten Stube

Das klassische Wohnzimmer ist tot. Heute hat der Raum viele Funktionen. Er dient als Spielplatz, Restaurant und für manche als Fußball-Tribüne. Wer braucht da noch Schrankwände und Fernsehsessel?

Von Oliver Herwig

Wie eine "explodierte Spielzeugkiste" sehe das Wohnzimmer gerade aus, sagt Christian Zöhrer, Architekt aus München. Zöhrer klingt aufgekratzt: "Das ist der Ort für die ganz großen Abenteuer." Sein Sohn Severin hat es nämlich zum Schauplatz von "Autorennen, Seemanövern und Weltraumexpeditionen auserkoren". Nach Jahren des Stillstands verändert sich das urbane Wohnen. Es sucht neue Nischen und schafft Angebote, die sich nicht mehr in das fest gefügte Bild eines Raums pressen lassen, der vor allem für Rituale wie das abendliche Fernsehen reserviert ist. Gründe gibt es viele: Steigende Mieten zwingen Stadtbewohner, die wenigen Quadratmeter besser zu nutzen, digitale Angebote ersetzen und minimieren Bücherwände und CD-Sammlungen, und mehr und mehr Menschen probieren so etwas wie eine WG für Erwachsene. Co-living heißt das, eine Variante zum Co-working-Arbeitsplatz, den man als Selbständiger mit wechselnden Teams teilt.

Erstaunlich lange hielt die gute Stube allen Veränderungen der Moderne stand. Mochte draußen auch Kalter Krieg herrschen, Waldsterben oder Demonstrationen gegen die Wiederaufarbeitungsanlage, der Ort bürgerlicher Selbstdarstellung verharrte in einer Art Winterschlaf. Wohl wurden die Möbel mit der Zeit etwas leichter und heller, die Schrankwand löste sich nach dem Vorbild eines schwedischen Großmöblers und seiner skandinavischen Heiterkeit sogar in mehr oder weniger transportable Teile auf, doch im Grunde blieb der Raum ein Abbild der guten analogen Zeit. Ein Widerspruch wurde freilich immer deutlicher. Obwohl selten von allen genutzt, nahm das Wohnzimmer etwa ein Drittel der Gesamtfläche typischer Wohnungen ein, etwa 20 bis 50 Quadratmeter. Damit ist wohl endgültig Schluss.

Die Digitalmoderne tritt nicht etwa mit schrecklich vernetzten Geräten auf, die dauernd im Internet einkaufen, sie wischt vor allem Gewohnheiten und Accessoires weg. Wer sitzt an einer Tafel mit gestärkter Tischdecke und Platztellern, während Kinder und Gäste an Mobilgeräten chatten, teilen und liken? Wer sieht in Bleikristallgläsern etwas, das man Gästen zeigen müsste, wenn es dauernd heißt: "Simplify your life", und weiße Wände zum Inbegriff von Freiraum und Luxus werden? Wer kauft meterweise Regale, wenn Bücher und Compact Discs von Spotify und digitalen Lesegeräten eingesaugt werden? Wer wirft sich in einen schweren Sessel, wenn selbst der Fernseher, lange Zeit Nachfolger des Hausaltars, nicht mehr Herrscher der Freizeit ist, sondern mobile Endgeräte?

Offene Wohnräume ohne Trennwände

Ob viel oder wenig Platz: Die Funktionen sind aufgehoben, Küche und Wohnen verschmelzen. Das Wohnzimmer von heute ist je nach Bedarf mal Wohn-, Familien- oder Freunderaum.

(Foto: Siematic)

Wie man es auch dreht und wendet, das klassische Wohnzimmer hat seine Aufgabe als Showroom von Kultur, Ordnung und Wohlstand der bürgerlichen Familie verloren. Was fand da eigentlich statt? Der Tübinger Autor Marcus Hammerschmitt erinnert sich eher ungern: "Das Wohnzimmer meiner Kindheit und Jugend war ein starrer Raum, der der Repräsentation diente. Formale Mahlzeiten an Sonn- und Feiertagen, eine simulierte Gemütlichkeit bei Familienfesten und gelegentliche Fernsehabende der stumpferen Natur bestimmten seinen Gebrauch." Hammerschmitt benennt die Ingredienzien des Zimmers wie Teile einer Folterkammer: "Der gute Tisch stand dort, das gute Geschirr wurde dort verwahrt, es war ja auch die gute Stube. Nur eins geschah dort nicht: Es wurde dort nicht mit der Selbstverständlichkeit gewohnt, die der Name versprach." Natürlich gibt es noch immer die Wohnwand, die Polstergarnitur und die Vitrine voller Souvenirs. Doch eigentlich ist das alte Wohnzimmer mausetot.

Heute (er)leben wir eine fröhliche Collage, die vieles, auch Widersprüchliches, zulässt. Der an der HfG Karlsruhe lehrende Designprofessor Kilian Schindler fordert vom Wohnzimmer nur eines: "Leben!" Er gibt zu, dass sich Möbel und Elemente auch morgen nicht grundlegend von den heutigen unterscheiden werden, aber die Gewichtungen und Materialien. "Küche und Wohnen werden zunehmend verschmelzen", prognostiziert der Gestalter, "das Sofa entwickelt sich zu einer raumgreifenden und raumgliedernden Relaxing-Zone." Und weil er den direkten Austausch mit Menschen liebt, sieht er auch die Möbel für Unterhaltungsgeräte aus dem Fokus verschwinden.

Schindlers Welt ist eine im Plural, die Raum bietet für persönliche Statements, die Vintage und Hightech vermischt und sich an neue Gegebenheiten anpasst: "Kommen Gäste zum Essen, wird die Tafel verlängert und das Sofa verdrängt." Der Tisch, besser die Tafel, gehört zwingend dazu zum neuen, nennen wir ihn mal Wohn-, Familien- und Freunderaum.

So vielfältig wie die Bezeichnungen ist auch die Ausstattung eines solchen Freiraums. Was sich ständig verändert, braucht keine Einmalmöblierung, die sich im Laufe der Zeit abnutzt und auf einen Schlag ersetzt werden muss. Vor gar nicht allzu langer Zeit waren viele stolz, kein einziges Stück übernommen zu haben. Heute ist der Gang zum Vintage-Händler festes Ritual des Samstagnachmittags. Entsprechend kann in einem Wohnraum vieles zusammenkommen: Regale und Spielkisten, Monitore und Stuhlsammlungen. Zu sehen ist eine bunte Collage mit hohem Spaßfaktor.

Logo Wohnen

Auch wenn der Handel das noch anders sieht: Schrankwand und Fersehsessel haben ausgedient

"Ich lebe in einer Stadtwohnung", sagt Architekt Sebastian Kofink. "Mein Wohnzimmer ist eher Ess- und Arbeitszimmer. Kein Sofa, dafür ein großer Tisch mit vielen Stühlen." Was dann folgt, dürfte die Generation Ikea eher aufschrecken: "Die dunkel gestrichenen Wände und die Vorhänge machen es gemütlich. Ich fühle mich dort sehr wohl." Vorhänge? Dunkle Wände? Gemütlich? Geht's noch?

Kofink und Büropartner Simon Jüttner, Gewinner des Förderpreises 2016 der Landeshauptstadt München für Architektur, gehören zu einer post-post-68 sozialisierten Kohorte. Kampfbegriffe der Moderne (Licht, Luft, Sonne) sind einer neuen Selbstverständlichkeit gewichen - und einem Selbstbewusstsein, das sich nicht länger an massenhaft vorgelebten Rollenbildern abarbeiten muss. Auch Kofink sieht und erkennt an, wie das Loft als Ideal unser Raumgefühl geprägt hat, doch, sagt er, im Alltag mangele es "oft an räumlicher Klarheit. Einfache, klare und geschlossene Räume können mindestens genauso großzügig und offen wirken."

Dabei fallen manche Kategorien in sich zusammen. War das Wohnzimmer einst gekennzeichnet durch schwere Möbel und starre Regeln, wird es zu einem Ort, der diesen Namen verdient. Das sieht auch ein Mitarbeiter der TU München so: "Heute wohnt man in einer offenen Wohnküche mit bodentiefen Fenstern, einem überlebensgroßen Liegesofa und direktem Ausgang auf den Balkon. Ein Raum ohne klare Grenzen und Zuordnungen. Italienisches Restaurant und Tribüne eines Fußballstadions zugleich."

Großbürgerliche Familie in den 30er Jahren

Früher war das Wohnzimmer Showroom von Kultur, Ordnung und Wohlstand der bürgerlichen Familie. Dort wurde an Sonn- und Feiertagen gegessen, auf gestärkten Tischdecken und von gutem Geschirr.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Mit steigenden Mietpreisen verändert sich gerade die Balance von Privatheit und Selbstdarstellung. Wer in einer Kleinstwohnung (oder wie man heute sagt: Mikrowohnung) lebt, ist froh über einen zusätzlichen Stauraum oder Gemeinschaftsräume wie Partyküchen und Dachterrassen, die sich flexibel den jeweiligen Wünschen anpassen lassen, auch wenn es heißt, dass man sie nicht dauernd nutzen kann, weil sich auch die Nachbarn darum reißen. So lernt man sie wenigstens kennen.

Fassen wir zusammen: Das Wohnzimmer von der Stange, wie es immer noch durch die Prospekte mancher Möbelgroßhändler geistert, hat ausgedient, ebenso Schrankwand und Fernsehsessel. Dafür kommt Leben in die Bude, an einer langen Tafel und mit vielen Freunden, die sich unter die Familie mischen. Und weil das große Loft für die meisten unerschwinglich bleibt, richten wir uns ein in kleinen Zimmern, die dafür schon mal gemütlich sein dürfen. Das klingt natürlich zu schön, um wahr zu sein, aber offenbar ist das Wohnzimmer längst urbaner Abenteuerspielplatz und Wunscherfüllungsort. Und weil es keine Denkverbote mehr gibt, sondern nur eine Vielzahl von Möglichkeiten, aus denen sich jeder mitnehmen kann, was er/sie will, kehren auch Worte zurück, die es bislang eher im Wortschatz der Großeltern gab, von denen sich eine ganze Generation unbedingt absetzten wollte. "Mir gefällt das Wort Stube", sagt Kofink. "Ein Raum, in dem man sich trifft und in dem alles passieren kann." Genau das ist es. Alles ist möglich hier. Es bleibt freilich spannend abzuwarten, wann die Wohnungswirtschaft mit neuen, offenen Grundrissen auf unser grundlegend verändertes Wohnverhalten reagiert.

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