Nachkriegsarchitektur in Frankreich:Poesie in Beton

Der Architekt Auguste Perret ließ Le Havre nach dem Krieg komplett neu aufbauen. Viele seiner Ideen waren ihrer Zeit weit voraus.

Von Ingrid Brunner

Auch so kann bezahlbarer Wohnungsbau aussehen: 99 Quadratmeter, schwellenfrei gebaut. Ein klarer, offener Grundriss, gleichwertige, lichtdurchflutete Räume, die in ihrer funktionalen Möblierung an Bauhaus oder frühes Ikea erinnern. Alle vier Wohnräume haben Balkon und Parkettboden, Bad und WC sind getrennt, Einbauschränke gehören ebenso zur Standardausstattung wie die Einbauküche und die bodentiefen Fenster. Das Wohnzimmer, offen zur Diele und zur Küche, ist mit dem Nebenraum durch eine Falttür verbunden.

Nachkriegsarchitektur in Frankreich: Im völlig zerstörten Le Havre orientierten sich die Architekten beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg nicht am alten Stadtplan. Ob Schulen, Straßen oder die Wohnungen für 40.000 Menschen: Das neu geschaffene städtische Ensemble gehört heute zum Weltkulturerbe.

Im völlig zerstörten Le Havre orientierten sich die Architekten beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg nicht am alten Stadtplan. Ob Schulen, Straßen oder die Wohnungen für 40.000 Menschen: Das neu geschaffene städtische Ensemble gehört heute zum Weltkulturerbe.

(Foto: Foto: Bréard Ville du Havre)

Was sich liest wie ein aktuelles Exposé für eine Neubauwohnung mit gehobener Ausstattung, beschreibt tatsächlich eine Musterwohnung aus dem Jahr 1957, von der in der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre nach dem Zweiten Weltkrieg Tausende in Rekordzeit gebaut wurden.

Ein kühner Plan

Das Wohnbauprojekt war Teil eines gigantischen Vorhabens, nämlich des Neubaus von Le Havre. Das Zentrum der Stadt war von britischen Luftangriffen am 5. und 6. September 1944 dem Erdboden gleichgemacht worden. Der Grund für das Bombardement: Die deutschen Besatzer hatten in Le Havre, dem größten Kriegshafen mit Zugang zum Atlantik, ihre Garnison und den Hafen im Rahmen des Atlantikwalls zu einer nahezu uneinnehmbaren Festung ausgebaut, in der 40.000 Mann stationiert waren. Bei den 132 Angriffswellen verloren 5000 Menschen ihr Leben, 80.000 Menschen wurden obdachlos, und 12.500 Gebäude versanken in Schutt und Asche. Die Zerstörung war so vollständig, dass ein Wiederaufbau der alten Strukturen nach dem vorherigen Stadtplan - wie dies in vielen kriegszerstörten Städten Deutschlands geschah - nicht mehr in Frage kam.

Die französische Regierung fasste einen kühnen Plan, mit dem sie zugleich Architekturgeschichte schreiben sollte: Auf 133 Hektar Fläche sollte eine komplett neue Stadt entstehen - Wohnraum für 60.000 Menschen, Verwaltung, Schulen, Kirchen, Kulturstätten, Hafenanlagen, Gewerbegebiete, Infrastruktur. Der französische Architekt, Bauunternehmer und Stadtplaner Auguste Perret, zu dessen Schülern unter anderem Le Corbusier zählte, erhielt den Auftrag, diese so schnell wie möglich Gestalt werden zu lassen. Eine gigantische Herausforderung, angesichts der Zeitnot und auch des Mangels an Baumaterial, auf die Perret mit einer ebenso kühnen Vision reagierte.

Die Zauberformel hieß für ihn Beton: "Mein Beton ist schöner als Stein, dessen Schönheit die edelsten Baumaterialien übertrifft." Er ließ den Schutt der zerbombten Häuser zermahlen, nach Farben und Strukturen getrennt. Vermischt mit feinen Glassplittern, Kies und Sand, entstanden unterschiedliche Betonoberflächen, mal grob, mal fein, in unterschiedlichen Farben. Die streng strukturalistischen Bauten waren zwar in ihrer modularen Bauweise radikal modern, zugleich aber nahm Perret klassizistische Anleihen und verzierte einen Teil der Oberflächen mit Ornamenten. Dadurch verlieh er den Gebäuden trotz des einheitlichen Baustils Individualität.

Zwischen 1945 und 1957 wuchs eine Stadt aus Beton in den Himmel, die farbig leuchtet, und bei aller konsequent durchgehaltener Formensprache Vielfalt und Lebendigkeit ausstrahlt. Nicht allen gefiel die radikale Modernität. Kritiker beklagten, die Stadt habe ihre Seele verloren. Doch Perret hielt unbeirrt an seinem Vorhaben fest. Er sagte, Beton habe seine eigene Poesie.

Früher Luxus

Hinter dem architektonischen Entwurf stand von Anfang an auch ein gesellschaftlicher: Eine neue Stadt für eine neue Zeit sollte es werden, eine Stadt, die sich in einem großzügigen Boulevard zum Ozean hin öffnet. Menschenwürdig sollte sie sein, hell, großzügig, luftig. Statt drangvoller Enge und schlechter hygienischer Wohnverhältnisse sollten die Menschen Raum erhalten, sich zu entfalten.

Nachkriegsarchitektur in Frankreich: Ein Innenhof in Le Havre

Ein Innenhof in Le Havre

(Foto: Foto: Andreas Sirch)

Dennoch: Perrets Plan war zwar fortschrittlich, nicht aber revolutionär. Denn wohlhabende Bürger erhielten großbürgerliche Wohnungen, während einfachen Arbeiterfamilien wieder kleinere Wohnungen zugewiesen wurden. Die Rekonstruktion schloss die gesellschaftlichen Verhältnisse ein. Das zugrunde liegende System der Entschädigung von Mietern, Eigentümern bis hin zu Ladenbesitzern sah vor, den Ausgebombten eine äquivalente Wohn- beziehungsweise Ladenfläche in einem Gemeinschaftseigentum zuzuteilen.

Moderner Standard

Perret, der schon 71 Jahre alt war, als Präsident Charles de Gaulle ihn mit dieser großen Aufgabe betraute, starb im Jahr 1954, doch seine Schüler führten sein Werk fort. So konnte er die Vollendung der Kirche St. Joseph im Jahr 1957 nicht mehr erleben: Sie ragt als neues Wahrzeichen der Stadt wie ein Leuchtturm 107 Meter in die Höhe und ist den Opfern der Luftangriffe gewidmet. Ihr oktogonaler Baukörper ist ebenso wie alle anderen Gebäude komplett aus Stahlbeton. Die Schönheit offenbart sich im Inneren der Kirche: Das Tageslicht wird durch die 12.700 in den Turm eingelassenen farbigen Glasscheiben gefiltert, deren Lichtbrechungen in dem nüchternen Bau eine geradezu poetische Transzendenz entfalten.

Am Ende waren es 10.000 Appartements, die entstanden sind - Wohnraum für 40.000 Menschen, in circa hundert Häuserblocks, die in ganz Frankreich als modern, ja futuristisch wahrgenommen wurden. Das eigene Bad und noch mehr das WC in der Wohnung galten als Luxus, ein Hygienestandard, den neunzig Prozent der Franzosen bis Anfang der sechziger Jahre nicht kannten. Die Wohnungen sind noch heute vermietet und sehr gefragt - auch als Kaufobjekte. Ihr Quadratmeterpreis liegt bei 2000 bis 3000 Euro pro Quadratmeter.

Glorreiche dreißig Jahre

Nachkriegsarchitektur in Frankreich: Moderne Technik in den "glorreichen dreißig Jahren" nach 1945: Waschmaschine, Dampfkochtopf, Kühlschrank, aber auch sanitäre Anlagen und Zentralheizung revolutionierten und erleichterten den Alltag.

Moderne Technik in den "glorreichen dreißig Jahren" nach 1945: Waschmaschine, Dampfkochtopf, Kühlschrank, aber auch sanitäre Anlagen und Zentralheizung revolutionierten und erleichterten den Alltag.

(Foto: Foto: Bréard Ville du Havre)

Die Menschen damals mussten sich über die Beschaffung von Möbeln und Hausrat keine Gedanken machen. Denn Auguste Perrets Idee der Modulbauweise reichte bis zum Design der Möbel: Betten, Schränke, Stühle, Tische - alles wurde in Serie produziert. Perret sah, ganz idealistisch, in seiner neuen Stadt eine Art großangelegten Versuch, den Menschen die Chance zu geben, ein neues Leben anzufangen. Die Keimzelle hierfür war für Perret die Wohnung.

Modernität beherrscht Le Havre noch immer

Moderne Technik sah er als Fortschritt und als Mittel, diesem Ideal näherzukommen: Waschmaschine, Dampfkochtopf, Kühlschrank, sanitäre Anlagen und Zentralheizung revolutionierten und erleichterten den Alltag der Nachkriegsgeneration. Deren Lebensstil, der wirtschaftliche Aufschwung und die Aufbruchstimmung gingen als "Trente Glorieuses", die glorreichen dreißig Jahre zwischen 1945 und den siebziger Jahren, in die Geschichte ein.

Modernität ist die Konstante in der Stadtplanung geblieben: Das Musée Malraux, eröffnet 1961, beherbergt die größte Sammlung impressionistischer Gemälde außerhalb von Paris. 1982 vollendete der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer ein Kulturzentrum. Jüngstes Zeugnis wegweisender Architektur sind die Bains des Docks, ein futuristisches Schwimmbad am Hafen, das vergangenes Jahr eröffnet wurde nach den Entwürfen des Pritzker-Preisträgers Jean Nouvel.

Postume Ehre wurde Auguste Perret, dem Poeten des Betons, im Jahr 2005 zuteil: Die Unesco erklärte das Stadtzentrum von Le Havre zum Weltkulturerbe. Begründung: Es ist das erste städtische Ensemble in Europa aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.

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