Lehman: Die letzten Stunden:Das Verhängnis von Liberty Street

Aussichtsloser Kampf: In einer legendären Sitzung schmiedete die US-Finanzprominenz einen Rettungsplan für Lehman Brothers - vergebens.

N. Piper

An diesem Freitag war alles anders. Normalerweise erstirbt das Leben im Finanzdistrikt von Manhattan, wenn das Wochenende naht. Jetzt jedoch verstopften unzählige schwarze Lincoln-Limousinen die engen Straßen rund um die Wall Street. Sie hatten alle ein Ziel: die Tiefgarage der Federal Reserve Bank of New York in der Liberty Street. Der damalige Chef der New York Fed und heutige US-Finanzminister Timothy Geithner hatte die Chefs der 30 wichtigsten Banken der USA eingeladen, dazu Finanzminister Henry Paulson und Notenbankchef Ben Bernanke. Thema war das Schicksal der Investmentbank Lehman Brothers.

Richard Fuld, Foto: AP

Verhasstes Gesicht der Krise: Richard Fuld, Ex-Chef von Lehman Brothers, musste sich schon wenige Wochen nach der Pleite seiner Bank vor dem Kongress rechtfertigen für die Umstände, die zur Schieflage der Investmentbank führten. Besucher des Kapitols begrüßten ihn mit der Aufforderung, sich zu schämen. Bis heute sieht sich der 62-Jährige nicht in der Schuld.

(Foto: Foto: AP)

Es sollte eine der folgenreichsten Sitzungen in der Geschichte Amerikas werden. Sie begann am Freitag, dem 12. September 2008, um 18 Uhr und endete nach mehreren Unterbrechungen am frühen Nachmittag des folgenden Sonntags ohne Ergebnis. Als Konsequenz beantragte die 158 Jahre alte Lehman-Bank am Morgen des 15. September Gläubigerschutz nach Kapitel 11 des amerikanischen Konkursrechts. Die Bank war pleite. Der Absturz der Weltwirtschaft begann.

Hilfe zur Selbsthilfe

Weil ihre Folgen so verheerend waren, blühten rund um die Sitzung bald wilde Gerüchte, bis hin zur These, das Ganze sei ein Komplott von Goldman Sachs und JP Morgan gegen den Rest der Welt. Tatsächlich bleiben bis heute einige Fragen offen, immerhin lässt sich inzwischen der Ablauf der Sitzung einigermaßen verlässlich rekonstruieren.

Für Finanzminister Paulson stand schon zu Beginn fest, dass er keinen Staatshilfen für Lehman zustimmen würde. Einer der Gründe dafür: In der Woche zuvor hatte er bereits die beiden Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt; die Steuerzahler müssen seither für deren Verluste geradestehen. Paulson fürchtete, bei einer weiteren Rettungsaktion im Kongress durchzufallen. "Ich glaube, es wurde viel Druck auf ihn ausgeübt, dass er mit den Interventionen in die Märkte aufhört," sagte der demokratische Vorsitzende des Bankenausschusses im Repräsentantenhaus, Barney Frank.

Ein halbes Jahr vorher hatten Paulson und Notenbankchef Bernanke schon die wesentlich kleinere Investmentbank Bear Stearns gerettet. Aber seither hatten sich die Verhältnisse geändert. Alle Investmentbanken hatten inzwischen Zugang zu Krediten der Federal Reserve. Vermutlich glaubte Paulson, dass dies eine Rettung von Lehman ohne Staatshilfe erleichtern würde.

Was dem Minister vorschwebte, war eine Lösung, bei der sich die Finanzbranche selbst helfen würde. Dafür gab es ein Vorbild: Fast genau zehn Jahre zuvor, als im September 1998 der Hedgefonds LTCM zusammenzubrechen drohte, war es gelungen, am gleichen Ort eine Rettungsaktion der großen Wall-Street-Banken zu organisieren. Jetzt wollte Paulson Ähnliches erreichen. "Es kann nicht sein, dass jede Bank so tut, als sei sie allein auf der Welt," sagte er. Zuvor hatten Paulsons Mitarbeiter Journalisten versichert, wie entschlossen der Minister in diesem Punkt sei.

Keine Hilfe ohne Staatsgarantien

Timothy Geithner und Ben Bernanke sollen Bedenken gehabt haben, weil sich Paulson öffentlich so sehr festlegte, sie unterstützten ihn aber offenbar in der Sache. Die Idee war, Lehman in eine "gute" und eine "schlechte" Bank aufzuteilen, wobei in Letzterer die faulen Hypothekenpapiere von Lehman deponiert werden sollten. Das Kapital für diese "Bad Bank" sollte aus der Branche kommen. Geithner soll den versammelten Bankern am Freitagabend gesagt haben: "Es gibt keinen politischen Willen, Lehman mit Staatsmitteln zu retten. Also kommen Sie morgen wieder und stellen Sie sich darauf ein, dass Sie etwas tun müssen."

Doch die Banker wollten nichts tun, nicht ohne Garantien des Staates. In der Runde, die sich am Samstagmorgen wieder versammelte, saß alles, was Rang und Namen an der Wall Street hatte: Vikram Pandit (Citigroup), Jamie Dimon (JP Morgan), John Mack (Morgan Stanley), Lloyd Blankfein (Goldman Sachs), John Thain (Merrill Lynch) sowie Christopher Cox, der damalige Chef der Börsenaufsicht SEC. Experten der Banken hatten die Bücher von Lehman durchgesehen und waren entsetzt. Nach Aussagen, die in US-Medien zitiert wurden, waren die Vermögenswerte der Investmentbank in der Bilanz um bis zu 30 Milliarden Dollar überbewertet. Noch am Samstag schied Kenneth Lewis, Chef der Bank of America, als Kaufinteressent für Lehman aus.

Am Sonntag, dem dritten Konferenztag, war einzig die britische Barclays Bank als Interessent übriggeblieben. Die Briten wollten als großer Mitspieler an der Wall Street einsteigen und sahen eine gute Gelegenheit dafür. Aber auch Barclays wollte Garantien, außerdem hatten die britischen Regulierungsbehörden Bedenken angemeldet. "Das ist das größte Pokerspiel der Welt", zitierte das Wall Street Journal später einen Mitarbeiter der US-Notenbank. Spätestens um 14 Uhr schied auch Barclays aus dem Spiel aus. Es war klar, dass Lehman untergehen würde. Die Bank of America übernahm die ebenfalls angeschlagene Konkurrenzbank Merrill Lynch. Deren Krise war während des Lehman-Dramas zunächst in den Hintergrund getreten.

Auf der zweiten Seite: Wie die Finanzwelt nach dem Lehman-Konkurs kollabierte - und was von den Verschwörungstheorien zu halten ist.

Der Anfang vom Ende

Es folgte eine dramatische Woche. Am Montag meldete Lehman Konkurs an, am Dienstag übernahm die US-Regierung die Versicherung AIG für 85 Milliarden Dollar. Am Mittwoch erwarb Barclays aus der Lehman-Konkursmasse die wichtigsten werthaltigen Bestandteile, darunter den Firmensitz am Times Square. Am Donnerstag wurde kurz vor Börsenschluss bekannt, dass Finanzminister Paulson ein Rettungspaket für die Banken in Höhe von mehreren hundert Milliarden Dollar plant.

Seither werden diese Tage in der Fachwelt diskutiert, immer wieder und immer kontrovers. Der Beschluss, Lehman untergehen zu lassen, war nach Meinung der meisten Experten eine der schlimmsten Fehlentscheidungen der amerikanischen Geschichte. Aber warum begingen ihn Paulson, Bernanke und Geithner, alles kluge Leute? War es nur ein Fehler, oder hatte die Entscheidung System?

Das Problem von Paulson war die Tatsache, dass er früher Chef von Goldman Sachs gewesen war. Er hatte auch mehrere frühere Goldman-Mitarbeiter als Berater angestellt. Einer von ihnen, Kendrick Wilson, war bei der Lehman-Sitzung in New York mit dabei. Das schafft den Eindruck von Nähe. Richtig ist auch, dass für Goldman Sachs der Versicherer AIG viel wichtiger war als Lehman. Die Bank war AIG-Kunde und bekam daher - ähnlich wie die Deutsche Bank, die Schweizer UBS und andere - Milliarden Dollar von der Regierung, als die Versicherung gerettet wurde.

"Die Sache stinkt"

Die unguten Gefühle eines großen Teils der amerikanischen Öffentlichkeit angesichts dieser Verbindungen drückte Dean Baker aus, Direktor des gewerkschaftsnahen Center for Economic and Policy Research: "Hat Goldman Einfluss auf Ex-Chef Paulsons Entscheidung gehabt? Ich habe keine Ahnung, aber die Sache stinkt." Es gibt bisher allerdings keinen Hinweis, der Zweifel an der Integrität der Beteiligten zulassen würde.

Eine weitere Theorie steuerte der Investmentbanker Lawrence McDonald bei. McDonald arbeitete früher als Anleihenexperte bei Lehman. Nach seiner Darstellung hatten sich Paulson und Lehman-Chef Richard Fuld im Frühjahr 2008 zum Abendessen getroffen. Paulson sorgte sich um die Zukunft von Lehman. Fuld, so McDonald, habe das Dinner danach gegenüber Mitarbeitern als großen Erfolg dargestellt ("Wir haben einen Stein im Brett beim Finanzministerium.")

Tatsächlich sei das Gespräch jedoch schlecht verlaufen. Paulson habe Fuld gedrängt, frisches Kapital aufzunehmen und eine Beteiligung der Koreanischen Entwicklungsbank zu prüfen. Worauf Fuld geantwortet habe: "Ich sitze auf meinem Posten länger, als Sie dies bei Goldman Sachs taten. Also sagen Sie mir nicht, wie ich mein Geschäft zu führen habe." Sollte das Gespräch tatsächlich so gelaufen sein, dann war Paulson sicher nicht begeistert. Dass er aber Lehman untergehen ließ, nur weil er den Chef nicht mochte, ist kaum vorstellbar.

Brisante Lage

Die brisantesten Fragen haben paradoxerweise überhaupt nichts mit Lehman zu tun, sondern mit Merrill Lynch: Hat Bank-of-America-Chef Kenneth Lewis im Interesse der Aktionäre seines Instituts gehandelt, als er am Sonntag dem Kauf von Merrill zustimmte? Die Lage dieser Investmentbank war viel schlechter, als Lewis - und vermutlich auch Paulson, Bernanke und Geithner - damals ahnten. Jedenfalls versuchte Lewis später, aus dem Geschäft wieder auszusteigen, wurde aber von der Federal Reserve und dem Finanzministerium bedrängt dabeizubleiben. Der New Yorker Generalstaatsanwalt Andrew Cuomo ermittelt mittlerweile, ob es dabei mit rechten Dingen zuging. Lewis selbst sagte bei Cuomo aus, er sei von der Regierung und der Fed gedrängt worden, die Details des Merrill-Kaufs geheimzuhalten.

Außerdem tauchte die E-Mail eines Fed-Mitarbeiters auf, worin es heißt: "Die Märkte würden die Kompetenz des Managements und die Fähigkeit, mit Risiken umzugehen, in Zweifel ziehen", sollte Lewis von dem Kauf zurücktreten. Der Vertrag wurde schließlich rechtswirksam. Die Ermittlungen Cuomos und die Debatten darüber verhinderten nicht, dass Präsident Barack Obama Fed-Chef Bernanke für eine zweite Amtszeit nominierte.

Es bleibt die letzte Frage: Warum veröffentlichte Paulson seinen Bankenplan erst nach dem Fall Lehmans, obwohl er schon länger daran gearbeitet hatte? Die Antwort dürfte relativ einfach sein: Die Lage musste erst richtig schlimm werden, damit es politische Mehrheiten für die Entscheidung geben konnte, unvorstellbare 700 Milliarden Dollar gescheiterten Bankern hinterherzuwerfen.

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