Großbritannien: Sozialhilfe:Jagd auf Simulanten und Faulpelze

Großbritannien will mit der größten Sozialhilfereform seit den Zeiten von Margaret Thatcher seine desolate Haushaltslage verbessern. Es wird vor allem rigide Kontrollen geben.

Andreas Oldag, London

Nun wird es für britische Sozialhilfeempfänger ernst: In den Städten Aberdeen und Burnley erhalten die Bezieher staatlicher Unterstützung in diesen Tagen eine schriftliche Aufforderung, sich für eine Untersuchung beim Arzt zu melden. Innerhalb der nächsten drei Jahre sollen sich 1,5 Millionen Sozialhilfeempfänger einem medizinischen "Check-up" unterziehen. Mit diesem ambitiösen Programm will die neue konservativ-liberale Regierung Simulanten und Faulpelze zum Arbeiten bewegen.

View Of London From The Monument To The Great Fire Of London

Mit ihren harschen Maßnahmen könnte die britische Sozialhilfereform sogar die deutsche Hartz-IV-Reform aus der Zeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder in den Schatten stellen.

(Foto: Getty Images)

Hintergrund der größten Sozialhilfereform seit den Zeiten der eisernen Lady Margaret Thatcher in den 80er Jahren ist auch die desolate Haushaltslage. Die Briten müssen ihr gigantisches Haushaltsdefizit von 155 Milliarden Pfund (180 Milliarden Euro) kappen, um nicht an der Schuldenlast zu ersticken. "Wenn wir das Defizit angehen wollen, müssen wir uns mit dem Sozialhilfeetat beschäftigen", hat der konservative Premierminister David Cameron die Linie vorgegeben.

Eindruck beim Arbeitgeber machen

Es ist ein ambitiöses Projekt, das mit seinen harschen Maßnahmen sogar die deutsche Hartz-IV-Reform aus der Zeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder in den Schatten stellen könnte. Der britische Arbeits- und Sozialminister Iain Duncan Smith lässt keinen Zweifel daran, dass arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger durch ein System von Zuckerbrot und Peitsche dazu gebracht werden sollen, einen Job anzunehmen. Wer sich weigert, muss damit rechnen, Leistungen sukzessive zu verlieren.

Und es soll dezidierte Kontrollen geben: Wer morgens nicht pünktlich zur Arbeit erscheint, werde dann eben auch mal zu Hause aus dem Bett geklingelt, kündigte Duncan in einem Interview schneidig an. Ansonsten solle es Nachhilfeunterricht geben, wie man sauber und adrett bei seinem Arbeitgeber einen guten Eindruck mache. Das klingt alles nach geradezu viktorianischer Strenge, obgleich der 57-jährige Smith zu den moderaten Konservativen im Kabinett zählt. Sein Ziel sei es denn auch, Briten, die derzeit "incapacity benefit" erhalten, also Unterstützung wegen Arbeitsunfähigkeit, wirklich zu helfen, stellte Duncan Smith klar. Er lehnt sich mit seiner Reform stark an das Modell des früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton an, der die Auszahlung von Sozialhilfe an ein System von Anreizen und Sanktionen koppelte.

Kaum ein Experte bezweifelt, dass sich in den vergangenen Jahren viele britische Langzeitarbeitslose in dem bürokratischen Sozialhilfesystem zum eigenen Vorteil eingerichtet haben. Viele erschummelten sich Arztatteste, um in den Genuss von lebenslangen staatlichen Leistungen zu kommen. Kaum jemand fragte nach, ob diese Menschen noch in den Arbeitsmarkt zurückkehren könnten. So blähte sich der Subventionsstaat besonders unter der früheren Labour-Regierung immer weiter auf.

5,5 Millionen Briten im arbeitsfähigen Alter leben derzeit vom Staat. 67 Prozent der Sozialhilfeempfänger haben nach Angaben des Arbeitsministeriums seit mindestens fünf Jahren keinen Job. Allein die Verwaltung der Leistungen kostet den Steuerzahler Jahr für Jahr drei Milliarden Pfund. Etwa 87 Milliarden Pfund pro Jahr werden an Hilfen ausgezahlt. "Wir wollen das System einfacher, transparenter und effizienter machen", meint Minister Duncan Smith. Insgesamt hat der Sozialetat, der auch Pensionen und Wohnungszuschüsse einschließt, ein Volumen von 194 Milliarden Pfund.

Harsche Konflikte

Das entspricht 28 Prozent der staatlichen Ausgaben. Duncan Smith rechnet damit, dass in den nächsten Jahren bis zu 500.000 Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Kritiker aus der Labour-Partei und aus Kreisen der Gewerkschaften halten das Ziel der Konservativen allerdings für illusorisch. Ein Grund ist die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit von 7,9 Prozent. Zudem musste auch Duncan Smith vor kurzem einräumen, dass die Reform kaum kurzfristig zu deutlichen Einsparungen führen wird. Im Gegenteil: Sie dürfte zunächst zusätzliche Kosten verursachen, weil der Staat Lohnzuschüsse, Eingliederungshilfen einschließlich Kosten für Ausbildungsprogramme übernehmen soll.

Damit ist jedoch ein harscher Konflikt zwischen Arbeits- und Finanzministerium programmiert. Schatzkanzler George Osborne besteht darauf, den Rotstift anzusetzen, weil er bis 2015 einen Haushalt vorlegen will, der die EU-Defizitgrenze von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts einhält. Erfolgreich hat Osborne bei Duncan Smith bereits interveniert, die Reform über zwei Legislaturperioden zu strecken. Zudem will der Schatzkanzler die Zahlungen für Heizkostenzuschüsse und freie Bustickets für über 60-Jährige einschränken. Osbornes Vorgabe: 15 Milliarden Pfund sollen aus dem Sozialetat herausgeschnitten werden. Auch beim Kindergeld, dessen Auszahlung dem Finanzministerium untersteht, knausert er. Das Geld, das bislang allen Familien unabhängig vom Einkommen zusteht, soll künftig nur noch an Geringverdiener gehen. Dadurch verschreckt Osborne allerdings die für die Konservativen wichtige Wählergruppe des Mittelstands.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: