Frankreich:Marschieren für den ersten Job

In Frankreich erhalten Jugendliche ohne Schulabschluss in Militär-Internaten eine zweite Chance, sie werden gedrillt und lernen Disziplin - mit erstaunlichem Erfolg.

Michael Kläsgen

Über dem Schloss von Montry erhebt sich schwach die Sonne. Auf dem Vorplatz steht in Reih und Glied ein Bataillon von Uniformträgern. Ihnen zugewandt intoniert der Leutnant die Nationalhymne. "Allons enfants de la patrie...". Fröstelnd stimmen die Jungen und Mädchen mit ein und singen so in-brünstig, wie es mit vollem Magen kurz nach dem Frühstück geht. Einer hisst die Trikolore. Der Leutnant schaut mit strengem Blick. "Stillgestanden!", befiehlt er. Eine Weile vergeht, Vögel zwitschern. "Auf mein Kommando ... rührt euch!", dann halblaut: "Und einen schönen Tag noch."

Willkommen in einem der 22 französischen Militär-Internate für Jugendliche ohne Schulabschluss und berufsqualifizierende Ausbildung. Im Château Montry bei Paris, einen Steinwurf von Disneyland entfernt, residierte einst der Baron von Reilhac. Jetzt ist hier das erste Erziehungslager für Heranwachsende aus den berüchtigten Vorstädten, wo vor knapp zwei Jahren Tausende Autos brannten - gegründet vom Verteidigungsministerium.

Seither beschreitet Frankreich einen umstrittenen und weltweit einmaligen Weg, die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu reduzieren: In Internaten lernen 18- bis 21-Jährige sogenannte Sekundärtugenden wie Höflichkeit und Pünktlichkeit. Wer als hoffnungsloser Fall gilt, soll so zurück in den Arbeitsmarkt finden.

"Wer früher erst gegen sechs Uhr morgens ins Bett gegangen ist, für den ist es ein Kulturschock, wenn er jetzt um sechs aufstehen muss", sagt der ehemalige Offizier Marcel Soldini. Der Mann mit dem graumelierten Haar ist der Ausbildungsleiter. Das gesamte Führungspersonal in den "Zentren der zweiten Chance" war früher bei der Armee. Die Militärschulen selbst sind aber zivile Einrichtungen.

"Jeder kann gehen, wann er will"

Die Jugendlichen essen und logieren dort, Jungen und Mädchen fein säuberlich getrennt und überwacht, in Holzbaracken, jeweils zwei oder drei in einem Zimmer. Sie erhalten 300 Euro Taschengeld pro Monat, wovon ihnen 160 Euro auf ein Konto überwiesen werden, als Starthilfe nach dem Internat. Mindestens sechs Monate muss jeder durchhalten. Wer nach zwei Jahren noch nicht vermittelbar ist, den gibt auch die Armee auf.

Alles erinnert auf den ersten Blick an die Bootcamps in den USA, in denen kriminelle Halbstarke gedemütigt, gebrochen und wieder aufgebaut werden - und doch ist der französische Ansatz ganz anders. Wer vorbestraft ist, wird hier nicht zugelassen. Wer Gewalt anwendet, Drogen nimmt oder damit dealt, fliegt sofort raus. "Das Ganze basiert auf Freiwilligkeit'', sagt Soldini. "Jeder kann gehen, wann er will." Die Jugendlichen tragen deshalb einen inneren Kampf aus.

"Natürlich würden wir manchmal am liebsten abhauen" erzählt Damotharan Thairiknehailan, "aber wir wollen ja raus aus den Vororten und Arbeit finden." Er ist 20, stammt aus Indien und trägt wie alle eine graue Tagesuniform, auf die dort, wo das Herz schlägt, eine kleine Trikolore genäht ist. Thairiknehailan kam gerade in einer kleinen Gruppe, ein selbstkomponiertes Lied schmetternd, im Gleichschritt heranmarschiert.

Wie die anderen salutiert er nicht, wenn man sich ihm nähert, er nimmt aber kurz Haltung an. So macht es auch Ezzroui Fathi, 19, der ihm bei-pflichtet: "Die ersten zwei Wochen sind eine Qual, aber andererseits ist das unsere letzte Chance."

Es ist zumindest eine große Chance für alle, die durchhalten: Sie bekommen nicht nur Unterricht in Französisch, Mathematik, Informatik und Staatskunde, sie werden auch berufsbezogen ausgebildet. "Wir wollen die Schule mit der Wirtschaft verbinden", sagt Soldini.

Ein Versuch, der für Frankreich eine Kehrtwende bedeutet. Bisher paukten Auszubildende nur Theorie. Praxis galt wenig. Jetzt eifert Frankreich dem dualen deutschen Ansatz nach. Das bedeutet für Montry: Supermärkte, Restaurants, Bau- und Logistikunternehmen aus der Region begleiten die Ausbildung, bieten Praktika an und rekrutieren im besten Fall im Camp ihren Nachwuchs. Das ist das Besondere an den Internaten.

Im Sog des Wahlkampfs

Mehr als drei Viertel der Absolventen in Montry haben einen festen Job gefunden. Wegen der Nähe zu Paris ist die Vermittlungsrate dort höher als im Landesdurchschnitt. Im Verteidigungsministerium ist man stolz darauf. Allerdings haben in zwei Jahren erst 2500 Freiwillige den Parcours hinter sich gebracht.

Das sind viel weniger, als sich die damalige Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie gewünscht hatte. Kurz nachdem sie im Sommer 2005 die Idee mit den Militärschulen aufbrachte, rebellierten Zehntausende Zuwandererkinder in den Vororten gewaltsam gegen ihr Ausgegrenztsein im Allgemeinen und die Lockerung des Kündigungsschutzes für Jugendliche im Besonderen. Anschließend gerieten die Internate in den Sog des Wahlkampfs.

Die linke Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal plädierte überraschend für militärische Erziehungslager und löste damit einen Sturm der Entrüstung aus. Noch heute scheiden sich die Geister daran.

Marschieren für den ersten Job

"Auch bei uns ist das ein heißes Thema", sagt der Bielefelder Jugend- und Bildungsforscher Klaus Hurrelmann. Er befürwortet den Ansatz, weiß sich aber in einer Minderheit. "Für viele Sozialpädagogen ist das schwer zu goutieren", räumt der Professor ein. Das Militärische schrecke ab. Und doch könne die Strenge helfen, Verhaltensmuster zu verinnerlichen.

Der Drill, die starren Regeln, die den Alltag prägen, könnten den Jugendlichen helfen, sich selbst zu disziplinieren und mehr Selbstachtung zu gewinnen. "Das ist ein ungewöhnlicher, aber richtiger Alternativweg. Es wäre sehr nützlich, auch in Deutschland darüber nachzudenken", sagt Hurrelmann.

Fünf Einrichtungen in Deutschland

Antiautoritäre Erziehung ist aus der Mode gekommen. In den USA werden Delinquenten in Drill-Camps geschliffen, in Japans Schulen müssen renitente Schüler seit Anfang dieses Jahres wieder in der Ecke stehen. Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen derer, die mehr Strenge fordern. Einer ihrer prominentesten Wortführer ist Bernard Bueb, der ehemalige Schulleiter des Elite-Internats Schloss Salem, der 2006 das Erziehungsbuch "Lob der Disziplin - eine Streitschrift" veröffentlichte.

In unionsregierten Ländern kehren einst abgeschaffte Kopfnoten für Fleiß und Betragen zurück. Und SPD-Politiker wie der Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels, verheiratet mit Susanne Gaschke, einer Autorin von Erziehungsbüchern, verlangen ein Ende der "antiautoritären Dauerreform".

Bisher gibt es in Deutschland fünf Einrichtungen, die in Ansätzen mit den französischen Militärschulen vergleichbar sind, auch wenn sie nichts mit der Bundeswehr zu tun haben und nur für Vor-bestrafte da sind. Die bekannteste davon liegt in Hessen und wurde von dem ehemaligen Amateurboxer Lothar Kannenberg gegründet.

Fehler machen ist nicht schlimm

Für sein "Trainingscamp" erhielt er nicht nur die finanzielle Unterstützung des Ministerpräsidenten Roland Koch, sondern auch das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Horst Köhler überreicht. Seit RTL 2 daraus die sechsteilige Doku "Das Erziehungscamp" für Schwererziehbare machte, gilt die Jugendhilfeeinrichtung als deutlichstes Zeichen für eine Abkehr vom Antiautoritären. Wer dort beim Essen "Scheiße" sagt, muss zehn Liegestütze machen.

So geht das in Montry nicht. Vor allem in der zweiten Phase der Ausbildung steht Fortbildung im Mittelpunkt, auch wenn Sport Pflicht ist. Nach dem Fahnenappell marschieren die Freiwilligen in Gruppen in ihre Klassenräume. Warum sie marschieren? ,,Wenn wir sie nur freundlich bitten würden, kämen sie wahrscheinlich nie pünktlich zum Unterricht'', antwortet Soldini.

Die Lehrer sind Zivilisten. Sie tragen die gleiche graue Kleidung wie die Schüler. Im Französisch-Kurs sitzen gerade einmal neun in einer Klasse. Ihre Aufgabe in dieser Stunde: Wann schreibt man "à" mit Akzent, und was ist der Unterschied zwischen "et" (und) und "est" (ist)? Fehler machen ist nicht schlimm. Noten gibt es keine. Neben dem Lehrer steht immer mindestens ein Aufpasser, meist ehemalige Absolventen, die darauf achten, dass niemand stört oder schläft.

Im Klassenzimmer nebenan büffeln neun Schüler für ihr Diplom als Landschaftspfleger, ein begehrter Berufszweig in Montry, obwohl dies kein Garant für einen Job ist. Wer dagegen auf den Bau will, werde mit 100-prozentiger Sicherheit übernommen, sagt Soldini. Außerdem können sich die Schüler auf die Logistik und Sicherheitsbranche spezialisieren. So gut wie kein Jugendlicher wird, wie man meinen könnte, von der Armee rekrutiert.

"Das werde ich im Leben nicht vergessen"

Zum Unterricht gehören auch Kurse, die dazu dienen, den Heranwachsenden Illusionen über vermeintliche Traumberufe zu nehmen. Darum kümmern sich Richard Mohamed und Troudi Mohamed. Beide stehen vorn an der Tafel in der Klasse. Es geht um den Beruf des Flugbegleiters.

Die Schüler sollen beantworten, welche Fähigkeiten man dazu braucht, welche Vor- und Nachteile der Beruf hat und wie viel man verdient. 4800 Euro, glaubt einer. "1500 Euro Grundgehalt", antwortet Richard Mohamed. Regelmäßig führen beide Berufsausbilder mit den Schülern noch Einzelgespräche über ihren Berufswunsch.

Umgerechnet lässt sich der Staat die Resozialisierung 24.000 Euro pro Freiwilligen kosten. Soldini hält die Summe für gerechtfertigt: "Das Gefängnis kostet noch mehr als die Zentren", sagt er lakonisch. Die Zentren sollen vorbeugen und vermeiden, dass jemand straffällig wird oder von Sozialhilfe leben muss. Nicht allen Jugendlichen gefällt, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Sie wollen sich nicht die Haare scheren lassen und keine Uniform tragen. Offiziell springt jeder Zehnte wieder ab. Ebenso viele werden der Anstalt verwiesen.

Wer bleibt, vertraut auf das Internat: "Es ist wie meine zweite Familie", sagt Wilfried Robin. "Ohne das Zentrum wäre ich auf der Straße gelandet", ergänzt Ezzroui Fathi. "Wir wären arbeitslos, ganz einfach", sagt Mickael Davidas. Wenn sie am Wochenende in die Vororte von Paris zurückkehren, müssen sich sie vor ihren Freunden rechtfertigen. Dann beginnt der innere Kampf aufs Neue. "Jeden Montagmorgen feiern wir innerlich einen kleinen Sieg, wenn sie zurückkommen", sagt Soldini.

Auch für Leiter wie ihn haben die neuen Militärakademien schon Erfolgserlebnisse gebracht. Voriges Jahr hatte der Staatspräsident fast 400 Jugendliche zur Parade am Nationalfeiertag auf die Champs-Elysées eingeladen. Dort saß Soldini mit ihnen auf der Tribüne, und plötzlich, als die Marseillaise ertönte, erhoben sich die Jugendlichen von sich aus, und stimmten, wie jeden Morgen um acht Uhr, inbrünstig mit ein. "Das", sagt Soldini, "werde ich im Leben nicht vergessen".

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