Flucht ins Umland:Wo bleibt die Renaissance der Stadt?

Der Exodus der Familien dauert an, denn in den Zentren gibt es nach wie vor zu wenige kinderfreundliche und bezahlbare Wohnungen.

Gerhard Matzig

Die Siedlungs- und Verkehrsfläche Deutschlands ist mittlerweile so groß wie die Bundesländer Thüringen, Schleswig-Holstein, Saarland, Berlin, Hamburg und Bremen zusammen. In jeder einzelnen Stunde werden in Deutschland 40 000 Quadratmeter verbaut. Das sind 40 000 Quadratmeter Eigenheim-Traum, Doppelhaushälften-Glück oder Gewerbepark-Ehrgeiz. Bestehend aus Beton und Asphalt, aus Ziegelstein und Dachpappe, aus Ampeln und Zebrastreifen - und jeder Menge Garagen und Parkplätzen, die jedoch weder etwas mit dem Park noch mit dem Platz zu tun haben.

Flucht ins Umland: Einfallslose Stadtplanung: Plattenbauten in Frankfurt/Oder

Einfallslose Stadtplanung: Plattenbauten in Frankfurt/Oder

(Foto: Foto: dpa)

"Flächenfraß" durch boomende Vororte

Das antiurbane, sich breiig in die Vororte und Trabantenstädte ergießende Phänomen hat einen Namen. Man nennt es "Flächenfraß". Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes haben die deutschen Gemeinden im Jahr 2004 insgesamt 554 Quadratkilometer Fläche ausgewiesen - zwei Prozent mehr als noch im Jahr 2000.

Die landwirtschaftlich genutzte Fläche reduzierte sich dagegen dramatisch. Allein in Baden-Württemberg wird täglich eine Fläche von 8,8 Hektar, auf der bisher Kühe grasten oder Getreide angebaut wurde, in Bauland umgewidmet.

Die Beteiligten des großen Fressens (Bauträger, Unternehmer, Baupolitiker, aber auch ganz normale Wohnraumsuchende) kann man sich demzufolge wie emsige Insekten vorstellen. Deutschland wäre in diesem Bild ein großes, grünes, saftiges Blatt. Schon bald wird davon nichts mehr übrig sein.

Dann leben wir in der Tristesse von "Suburbia" - im kilometerpauschalhaften Pendel-Abstand zu den Städten, wo die Arbeit ist. Es sei denn, ein anderes Phänomen setzt sich gegen den schier unstillbaren Flächenfraß durch. Dieses andere Phänomen trägt den Namen "Renaissance der Stadt".

Gemeint ist damit die Rückkehr in die Städte: zum Wohnen wie zum Arbeiten. Weil das ökonomische und ökologische Implikationen mit sich bringt, lautet eine der spannendsten Fragen, wer am Ende gewinnen wird: das Land, also das Mobilitäts-Lebensmodell einer Existenz "im Grünen", oder die Stadt, deren Urbanität als Lebensgefühl nach Ansicht vieler Experten immer mehr Menschen wieder zurück in die Zentren zieht.

"Wir können uns keine ausfransenden Städte mehr leisten"

Auf unendlich vielen Foren, Podien und Symposien wird diese Frage schon seit Jahren verhandelt. Das bedeutsamste und auch größte Architekturforum der Welt, die Architekturbiennale in Venedig, die am 10. September eröffnet wurde und bis 19. November dauert, widmet sich ebenfalls dem Thema der Stadt-Zukunft. "Cities. Architecture and Society" - so lautet das Biennale-Motto.

Deren Leiter, der englische Architekt und Urbanist Richard Burdett, sagt: "Jeder, der bei Sinnen ist, gibt zu, dass kein Weg an der Verdichtung vorbeiführt. Wir können uns keine Städte mehr leisten, die nach allen Seiten ausfransen. Zum Glück zieht es viele Vorstädter wieder in die City zurück. Alles andere ist weder in ökonomischer noch in ökologischer Hinsicht zu vertreten."

Richard Burdett hat Recht - im globalen und historischen Maßstab betrachtet. Um 1900 lebten zehn Prozent der Erdbevölkerung in Städten, heute sind es mehr als 50 Prozent, in absehbarer Zeit werden es laut UN-Berechnungen 75 Prozent sein. Was wir derzeit erleben, ist folglich die Verstädterung der Welt. In Lagos, Dakar und Bangladesch kommt in jeder einzelnen Minute ein Stadtbewohner hinzu. Ein Ballungsraum wie Tokio beherbergt heute 35 Millionen Einwohner. Die Stadt Tokio ist also schon jetzt um ein Vielfaches größer als so manche Nation.

"Shrinking Cities" in Ostdeutschland

Gleichwohl - und hier hat Burdett nicht Recht - entzieht sich ein Land wie zum Beispiel Deutschland diesem globalen Trend zur Verstädterung. Zum einen, weil sich manche deutschen Städte - vornehmlich solche im Osten - geradezu entvölkern und daher schrumpfen. Auch dieses Phänomen ist bekannt: Es heißt "Shrinking Cities". Zum anderen, weil hierzulande die Theorie von der Renaissance der Stadt immer noch vor allem dies ist: eine Theorie.

Dieser Theorie zufolge verdankt sich die Renaissance der Stadt hauptsächlich der Schubumkehr bisheriger Suburbanisierungsprozesse. Oder in den Worten des Soziologen Hartmut Häußermann: "Suburbia geht das Personal aus." Der abseits gelegene Wohnort, der sich vor allem in der Nachkriegszeit als Lebensform der Mehrheit etablierte, funktionierte nur, weil sich Frauen damals in den Dienst des Hauses und der herumzuchauffierenden Kinder gestellt haben.

Die moderne berufstätige Mutter dagegen, die - im Idealfall - den Familienjob mit dem Mann teilt, benötigt die Stadt der kurzen Wege, um Job und Familie effektiv zu organisieren. Das gilt auch für Männer, die sich nicht mehr ausschließlich als Büroinsassen definieren wollen. Auch ihnen bietet die Stadt ein günstigeres, räumlich flexibleres Lebensumfeld.

Wo bleibt die Renaissance der Stadt?

Und schließlich sind auch die Senioren als Botschafter einer überalterten Gesellschaft interessiert an einem Leben in der Stadt. Denn sie sind bedroht von Immobilität und, nach Auszug der Kinder aus dem räumlich dann auch nicht mehr angemessenen Haus, auch von Einsamkeit.

Mit Blick auf die explodierenden Spritpreise und die kraftraubende Pendelei, mit Blick auch auf die extrem ungünstige Energiebilanz der Einfamilienhauspolitik: Die Renaissance der Stadt wäre das Gebot der Stunde. Theoretisch jedenfalls.

Vorallem Familen zieht es ins Umland

Die Praxis sieht aber noch immer ganz anders aus. Allein in München, einer der wenigen boomenden Städte in Deutschland, ziehen jährlich ungefähr 21 000 Menschen ins Umland. Unter den Haushalten, die München verlassen, sind - so eine Studie der Stadt - "überproportional viele Familien mit kleinen Kindern". In München ereigne sich geradezu ein "Exodus der Familien". Das gilt auch für manch andere Stadt.

Dem Bedürfnis der Singles und Senioren, in den Zentren zu leben, steht der beharrliche Wunsch der Familien nach einem Leben im Grünen entgegen. So lautet zumindest die offizielle Erklärung, etwa die der Stadt München: "In den Umlandgemeinden haben die Kinder Platz, ein freies Umfeld mit Wiesen und Wald."

Diese Vorstellung muss gar nicht einmal falsch sein. Obwohl manche Umlandgemeinde in München und anderswo lediglich aus der besteht. Bedeutsamer aber könnte ein anderer Umstand sein: Auch stadtbegeisterte Familien finden in der Stadt viel zu selten bezahlbaren, großzügig dimensionierten und vor allem kindgerechten Wohnraum.

Phantasiearme Einheitschnitte mit Minibalkon

Die Bauwirtschaft verschläft die Renaissance der Stadt. Makler, Baupolitiker und Architekten unterschätzen diesen Markt vollkommen. Zu schweigen von den einfallslosen Rathäusern, die händeringend nach Familien rufen - aber zu unbeweglich sind, etwas dafür zu tun.

Ein Beleg dafür findet sich in jeder beliebigen Immobilienbeilage der Tageszeitungen. Selbst wenn dort - selten genug - das "Familiendomizil mitten in der Stadt" angepriesen wird, läuft es nicht selten auf eine 84-Quadratmeter-Wohnung im phantasiearmen Einheitsschnitt mit Minibalkon hinaus. Wohnungen, die Familien mit zwei, drei oder sogar noch mehr Kindern in die Städte ziehen, sehen anders aus.

Sie bestehen - gerade in größeren Miethäusern - zum Beispiel aus überdimensionalen Erdgeschosszonen mit verschließbaren Stauflächen, die dem Spielgerät und sämtlichen Fahrzeugen vom Dreirad bis zum Eisbach-Surfbrett ohne den Umweg über das Kellerabteil Platz bieten.

Der Reiz der Stadt liegt in der Durchmischung

Sie bestehen aus gewaltigen Balkonen, Terrassen oder sogar vertikalen Gärten - "grünen Zimmern" ähnlich -, um möglichst viel Freiraum schon in der Wohnung zu realisieren. Sie bestehen aus ehrgeizig gestalteten Mietergärten, die heute im Altbestand meist nur in Form von trübsinnigen Garagen und Mülltonnen existieren.

Sie bestehen aus Schallschutz, hellen, hohen Räumen und riesigen Küchen. Und vor allem: aus variablen Grundrissen. Wobei auch die Häuser selbst abwechslungsreich gestaltet sein müssen. Denn der Reiz der Stadt liegt ja gerade in der Durchmischung - und nicht in der Ghettoisierung.

Übrigens: Natürlich kosten große Wohnungen mitten in der Stadt viel Geld. Das ließe sich kompensieren, indem der Baugrund effektiver genutzt würde: durch etwas höhere Häuser. Nachdenken muss man nicht über protzige Bürowolkenkratzer - sondern über den vertikalen Lebensraum der Zukunft.

Variabilität in der Höhe der Häuser wie in der Größe, der Ausstattung, der Kosten und der Belegung der Wohnungen: Das wäre die Renaissance der Stadt. Nur haben die Stadtpolitiker, Bauträger und Architekten offenbar noch nie etwas davon gehört. Bis sie aufwachen, werden die Insekten weiter fressen.

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