Finanzkrise:Turbo

Die Krise des Marktes widerlegt den Mythos der "unsichtbaren Hand": Höchste Zeit für die Erkenntnis, dass wir alle Kapitalisten sind.

Andreas Zielcke

Als ich meine Bar-Mizwa feierte", berichtet der Soziologe Daniel Bell, "erklärte ich dem Rabbi: ,Ich habe die Wahrheit gefunden. Ich glaube nicht an Gott.' Da sah er mich an und erwiderte: ,Mein Junge, du glaubst also nicht an Gott. Meinst du, Gott schert sich darum?" Eine ähnliche Antwort durfte vor kurzem noch jeder erwarten, der den Kapitalismus ablehnte. Was kümmerte diesen die Kritik, die vom Glauben an seine überlegene Schöpfungskraft abgefallen war? Der kommunistische Affekt hat sich erledigt. Mögen die Hunde bellen, die große kapitalistische Karawane zieht weiter.

Finanzkrise: Ein chinesisches Model präsentiert ein Mercedes Benz Coupé auf einer Automesse in Shanghai.

Ein chinesisches Model präsentiert ein Mercedes Benz Coupé auf einer Automesse in Shanghai.

(Foto: Foto: Reuters)

Sagenhafte Unanständigkeit

Inzwischen aber breitet sich auch in der Karawane das Unbehagen mächtig aus. Als 1990, in jenem euphorischen Jahr nach dem Mauerfall, der den endgültigen Sieg des Kapitalismus einleitete, der große amerikanische Philosoph Hilary Putnam erklärte: "Die Art und Weise, wie alle Welt die Vorzüge des Kapitalismus preist, ist von sagenhafter Unanständigkeit!", klang das noch wie die einsame Stimme eines für diese Welt allzu feinsinnigen Außenseiters. Heute muss man blind sein, um die Unanständigkeiten des Kapitalismus zu übersehen.

In der Tat, so unersetzlich er ist, so heftig zieht er Kritik auf sich. Dass ein Spekulant wie George Soros an der Spitze der Karawane mitziehen und dennoch im Chor der bellenden Hunde mitjaulen kann, ohne als Zyniker oder Clown zu gelten, ist symptomatisch genug.

Wie symptomatisch - das beweisen die jüngsten Turbulenzen des Finanzmarktes. Die von dem Handel mit faulen Immobilienkrediten ausgelöste Krise schnürt nicht nur dem Finanzsystem die Luft ab, sondern entzieht auch dem "Rest" der Weltökonomie die nötige Liquidität. Von "Rest" zu sprechen, ist nicht mehr falsch. Innerhalb der vergangenen 17 Jahre ist, so das McKinsey Global Institute, das Verhältnis von Finanzanlagen zu dem jährlichen weltweiten Sozialprodukt von 109 Prozent auf 316 Prozent gestiegen. Die dreifache Menge aller erwirtschafteten Werte kursiert also auf den exterritorialen Umlaufbahnen des Finanzmarktes.

Fehler, die dort gemacht werden, kann sich das letzte Viertel des Weltmarkts, in dem die realen Produkte hergestellt und vermarktet werden, nicht vom Leibe halten. Nicht jedenfalls, wenn dort in derart fahrlässiger Weise mit Milliardenbeständen ungesicherter Geldtitel hantiert wird, die mit der Finanz- und Kaufkraft der realen Ökonomie verzahnt sind.

Schon dass die Hergabe von Krediten an Schuldner, deren Grundbesitz und Einkommen keine äquivalente Sicherheit bieten, im großen Stil als Geschäftsmodell entwickelt wurde, ist skrupellos genug. Sie offenbart eine Denkungsart, die sich nicht nur vollständig von den Folgen für den primären sozialen Tatbestand löst (dem Schicksal der Schuldner), sondern auch jegliche ökonomische Solidität und damit sogar das Eigeninteresse verrät und verkauft.

Grenzenlose Multiplizierung des unseriösen Denkens

Dass der internationale Finanzmarkt aber die unseriösen Kredite paketweise aufkauft und durch abgeleitete Derivate zu riesigen Geschäftsfeldern ausbaut, um schließlich die faule Herkunft der Anlagen in scheinsoliden Fonds zu kaschieren, beweist eine grenzenlose Multiplizierung des unseriösen Denkens. Und es beweist die Unfähigkeit des Finanzmarktes zur Selbstkontrolle.

Darum ist der größte Schaden, den der Ausfall der Kontrolle und des Verantwortungsbewusstseins verursacht hat, der sich tief in die Weltwirtschaft hineinfressende Vertrauensverlust. Doch diese Vertrauenskrise hat, so viele Unschuldige und Steuerzahler nun auch für den Schaden aufkommen müssen, gewiss einen positiven Effekt. Sie könnte ein für alle Mal den Glauben an das segensreiche Wirken einer "unsichtbaren Hand" des Marktes zu Fall bringen.

Gerade unter denen, die nun so kläglich nach staatlicher Hilfe rufen, sahen viele den stürmischen Aufschwung des Kapitalismus der vergangenen 20 Jahre als ultimativen Triumph der "unsichtbaren Hand". Dass dieser Glaube seit Adams Smiths Lehre im 18. Jahrhundert nie totzukriegen war, ändert nichts daran, dass es ein Irrglaube ist.

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Nicht von ungefähr erinnert sein Dogma, dass aus der eigensüchtigen Konkurrenz der Marktteilnehmer wie von Geisterhand in der Summe eine Steigerung des wirtschaftlichen Gemeinwohls hervorgeht, an das kindliche Wunschdenken in Lewis Carrolls "Alice im Wunderland": "Nachdem sie indessen ungefähr eine halbe Stunde lang gelaufen und wieder ganz trocken geworden waren, rief der Brachvogel plötzlich: ,Ende des Wettlaufs!' Und alle drängten sich, noch ganz außer Atem, um ihn und fragten: ,Aber wer ist Sieger?' Dies konnte der Brachvogel nicht ohne tieferes Nachdenken beantworten, und so saß er längere Zeit hindurch da und legte den Zeigefinger auf die Stirn, während ringsum alles schwieg und wartete. Endlich sagte der Brachvogel: ,Alle sind Sieger, und jeder muss einen Preis bekommen.'"

Eine Kette des Marktversagens

Wenn es doch auf dem Markt so wäre! Wenn wenigstens in einem idealtypischen Markt ein zauberhafter Brachvogel für den glücklichen Ausgang des großen Rennens aller Konkurrenten sorgen würde und am Ende alle gewinnen würden! Doch leider beweist schon die Spieltheorie, dass selbst auf dem idealen Markt die Gesamtbilanz nie optimal sein kann. Von ungleicher Verteilung der Verluste und Gewinne ganz zu schweigen.

Erst recht aber fällt die Bilanz ernüchternd aus, betrachtet man wirkliche Märkte: eine Kette des Marktversagens. Vielen gilt das Verursachen des Klimawandels als bislang schwerster Fall in der Geschichte. Über das Etikett lässt sich streiten, andere Fälle von Marktversagen wie das Zerstören der Gesundheit ganzer Generationen von Industriearbeitern oder der unzähligen Wanderarbeiter in China, die heute 12, 14 oder gar 17 Stunden am Tag arbeiten, ohne Urlaub, ohne Versicherung - all diese Fälle sind kaum weniger verheerend.

Der ungeregelte Markt ist zu allem fähig. Die Amoral seiner unsichtbaren Hand unterscheidet nicht zwischen Drogen- und Getreidehandel, der Markt funktioniert beim Aufbau von sozialer Infrastruktur genauso wie bei deren Demontage. Der pure Markt ist selbstdestruktiv und frisst seine Kinder.

Aber genau wegen seiner moralischen Indifferenz ist er zugleich so unersetzlich. Nur seine Neutralität ermöglicht den freien Warenaustausch über jede regionale und biographische Grenze hinweg. Die Aufgabe des humanisierten Kapitalismus ist darum nichts anderes als die nachhaltige Entfaltung dieses Dilemmas: den Markt, dessen Kern notwendig amoralisch bleibt, mit klugem Regelwerk und zivilisierender Lebensart einzuhegen.

Der moderne Kapitalismus kultiviert beides. Er bindet die Anarchie des Marktes durch immer raffiniertere Feinsteuerung der ökonomischen Prozesse ein. Doch sein wahres Fundament reicht viel tiefer: Er hat sich, zumindest im Westen, als Lebensform etabliert.

Reste protestantischer Ethik

Unabhängig davon, ob noch Reste jener protestantischen Ethik zum Tragen kommen, die Max Weber für die Gründungsphase beschrieben hat, oder ob es die neuen Spitzenwerte Autonomie, Risikobereitschaft, Egoismus und Verantwortungsübernahme sind, in jedem Fall ist es der kulturelle und soziale Gehalt der heutigen Lebensform, der die Produktivität des Kapitalismus bestimmt: seinen Erfindungsreichtum, sein Tempo, seine Arbeits- und Konsumstile, seine Belastbarkeit in Krisen. Also alles, was ihn treibt, beschleunigt und bremst und was ihm sozialen Sinn verleiht. Jedwede unsichtbare Hand, gäbe es sie denn, würde von diesem kulturellen Geist geführt.

Das aber bringt diesen Geist in eine widersprüchliche Rolle. Er ist sowohl Komplize als auch regulierender Widerpart der Ungestümheit, mit der der Kapitalismus seit Jahren so Furore macht. Nie war er so vorsätzlich janusköpfig wie heute: enthemmt und integriert zugleich, amoralisch und verantwortungsvoll, wild und anpassungsbereit in einem.

Was dieser Systemwiderspruch vor allem gebiert, ist ein beispielloser energetischer Drive. Als bloße Habgier lässt sich dieser Drive wohl nicht fassen. Der Elan, der unentwegt neue Märkte, neue Unternehmensstrukturen, neue rentable Potenzen hervorbringt, er speist sich aus weiteren Motiven - Motiven, die ihre Befriedigung aus dem Durchbrechen von Grenzen, der Eroberung neuen Terrains beziehen, aus der permanenten Revolution.

Fortsetzung auf der nächsten Seite: Der Angestellte als Kopie des Unternehmers

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Beim ertragreichsten Rückversicherungskonzern der Welt, der Münchener Rück, heißt das aktuelle Erneuerungsprogramm "Changing Gear", einen Gang höher schalten. Nach oben scheint die Zahl der Gänge im kapitalistischen Getriebe unbegrenzt. Jedes soziale Geschwindigkeitslimit wird überschritten, jede Gewohnheit in Frage gestellt. Die Energie siegt über das Bewährte, das Flüssige über das Feste.

Wenn Nokia mit seinen Betrieben ambulant von einem Land ins andere zieht, erinnert dies wieder an den Urkonflikt zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten - nur dass jetzt die Nomaden über die Sesshaften siegen. In die kapitalistische Lebensform ist das epochale Drama zurückgekehrt.

"Die politische Ökonomie der Nachkriegszeit", so der Soziologe Heinz Bude, "war in erster Linie mit Problemen der sozialen Symmetrie beschäftigt. Das ist heute anders. In Frage steht das Rätsel von Innovation und Dynamik, nicht das von Kohäsion und Partizipation. Der Unternehmer, nicht der Arbeitnehmer beflügelt die kollektiven Phantasien."

Wo einst im Unternehmen Loyalität und auch Solidarität im Vordergrund standen, zählen nun durchsetzungsstarke Energie und Kreativität - gerade da, wo sie den Rahmen sprengen. Lohnabhängige Mitarbeiter sind nicht mehr als treu-fleißige Diensttuende gefragt. Im besten Fall ist jeder Einzelne eine eigene Quelle unternehmerischer Dynamik, ist jeder selbst ein schöpferischer Zerstörer.

Der Angestellte als Kopie des Unternehmers

Der Angestellte ist darum, will er nicht zum wachsenden Heer der Verlierer gehören, der Doppelgänger des Unternehmers. Und als solcher ist er ähnlich tatendurstig, initiativenreich - und flexibel loyal-illoyal wie jener.

Damit schließt sich der Kreis zur jetzigen Krise des Finanzmarkts. Denn wenn sich mit der neuen Philosophie des Kapitalismus der Angestellte zur Kopie des Unternehmers wandelt, zieht die Dynamik des Marktes in das Unternehmen ein, es gibt keine Demarkationslinie mehr zwischen innen und außen, das Unternehmen löst sich innerlich von seinen Produkten und wird letztlich zum Portfoliomanagement.

Die Komposition seines wirtschaftlichen Engagements wird unsentimental danach zusammenstellt, was am profitabelsten ist - ein Kaufhaus wie Karstadt-Quelle ist binnen kurzem größter Anbieter von Direkt-Krankenversicherungen geworden. Da ist der ungeheure Bedeutungszuwachs des Finanzmarkts nur folgerichtig. Allein das Geld und dessen Derivate sind sozial unempfindlich, transferierbar, traditions- und widerstandslos genug, um das ideale Medium des kapitalistischen Energiekreislaufs darzustellen.

Kein Wunder also, dass der Finanzmarkt so explosiv expandiert. Kein Wunder aber auch, dass sich hier kapitalistische Unanständigkeiten potenzieren. Wo in einem flirrenden Raum schierer Virtualität sich alle soziale Substanz verflüchtigt und jede Summe, jeder Kapitaleinsatz spielend übertrumpft werden kann, wo Entscheidungen nicht einem Produktionsrhythmus folgen, sondern einander in Sekunden ablösen, wo nicht Erfahrung, sondern Virtuosität prämiert wird, da verjagt ein Erfolg den andern, da nährt ein Leichtsinn den nächsten.

Wie auch immer aber die aktuelle Krise ausgeht, die materiellen Vorteile der neuen kapitalistischen Gestaltungsenergie sind gewaltig. Welcher noch so entschiedene Kapitalismuskritiker möchte sie missen? Ebenso gewaltig sind aber auch die sozialen und ökologischen Nachteile. Irgendwo dazwischen stellt sich noch die Sinnfrage.

In dem 50er-Jahre-Film "Auf Wiedersehen, Franziska!" bemerkt Carlos Thompson gegenüber Ruth Leuwerik einmal: "Das kleine Stückchen zwischen Gestern und Morgen, das ist das Einzige, was wir haben." Ein solches Lob der Gegenwart ist das Letzte, was der energetische Kapitalismus braucht. Der Kapitalist, und das ist heute auf Gedeih und Verderb eben jeder, ist voll der Zukunft verschrieben, den reichen Optionen des Morgen.

Ist die neue Marke, der neue Markt realisiert, sind die pfiffigsten Unternehmer längst unterwegs zu neuen Ufern. Kleist klagte einst, er sei ihm unmöglich, sich anders "als durch die Zukunft auszusprechen". Was den Dichter noch beschwerte, befeuert den Unternehmer. Dort am Horizont der immer schneller eingeholten und immer schneller fliehenden Zukunft, dort ist sein Ziel, dort wird nicht alles gut, aber alles besser.

So gesehen ist der Kapitalismus die produktivste Lebenslüge, die es gibt.

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