Ein halbes Jahr nach der Lehman-Pleite:Verspieltes Vertrauen

Wie der Ex-Chef von Lehman, ein deutscher Lehman-Anleger, der Boss von General Motors und der Arbeitsamts-Chef in Bochum das vergangene halbe Jahr erlebten.

A. Hagelüken, A. Mühlauer und H. Wilhelm

Genau vor einem halben Jahr ging die US-Investmentbank Lehman Brothers in Konkurs. Es war das erste große Geldhaus, das nicht vom Staat gerettet wurde. Danach eskalierte die Finanzkrise zur schwersten Weltwirtschaftskrise seit acht Jahrzehnten. Anleger haben ihr Geld verloren, Arbeitnehmer ihren Job. Niemand weiß, wohin die Krise noch führen kann. Banker, Anleger, Bosse und Arbeitsmarktexperten erzählen, wie sich die Welt in einem halben Jahr völlig veränderte - und was das für die Zukunft bedeuten könnte. Bis heute stellt sich die Frage: Hätte die US-Regierung Lehman retten sollen und so Schlimmeres verhindert? Oder hätte die Krise die Welt trotzdem mit voller Wucht getroffen?

Ein halbes Jahr nach der Lehman-Pleite: Ihr Zusammenbruch veränderte den weiteren Gang der Welt: Menschen vor einer Filiale der früheren Großbank Lehman Brothers.

Ihr Zusammenbruch veränderte den weiteren Gang der Welt: Menschen vor einer Filiale der früheren Großbank Lehman Brothers.

(Foto: Foto: Reuters)

Am Tag, an dem seine Bank verschwindet, macht Richard Fuld sein letztes großes Geschäft. Es geht ihm nicht um die Rettung des 158 Jahre alten Geldhauses mit dem Traditionsnamen Lehman Brothers, und um seine 28.000 Mitarbeiter geht es ihm schon gar nicht.

Fuld, 62, verkauft seine fast drei Millionen Lehman-Aktien, 16 bis 30 Cent pro Papier. Er bekommt dafür knapp 500.000 Dollar. Für Fuld ein Wochenlohn, nicht gerade viel, aber immerhin etwas.

An seine Mitarbeiter, die wegen der Pleite insgesamt 13,7 Milliarden Dollar ihres Vermögens verlieren, schreibt Fuld in einer E-Mail: "Ich fühle mich furchtbar."

Für Gefühle war nie viel Platz in der Finanzwelt, schon gar nicht bei Fuld, den sie an der Wall Street "Gorilla" nannten. Am 15. September 2008, einem Montag, verschwindet seine Bank und mit ihr viel Geld und viel Vertrauen. Ein halbes Jahr ist das nun her. Spätestens jetzt erkennt die Welt: Vieles, was danach geschah, hat mit der Pleite dieser Bank namens Lehman zu tun.

Ganz direkt kommt die Pleite in einem kleinen Ort bei München an, 8000 Einwohner, zwei Banken. Erwin Maurer, ein Rentner, der in Wahrheit anders heißt, bekommt einen Anruf von seiner Raiffeisenbank.

40.000 Euro verloren

Dort ist er seit über 30 Jahren Kunde. Sie sagen ihm, dass er bei seinen Anleihen 40.000 Euro verloren habe. Die Beraterin erklärt, die Insolvenz von Lehman Brothers sei schuld. Maurer hat den Namen noch nie gehört. Er fragt: "Was ist das denn für eine Bank?"

Ausgerechnet am 16. September, dem Tag nach der Lehman-Pleite, feiert General Motors den hundertsten Geburtstag. An der Spitze des einstmals größten Automobilunternehmens der Welt steht Richard G. Wagoner, genannt Rick. GM - diese beiden Buchstaben stehen für Amerika wie Fastfood und Coca-Cola.

Die Firma aus Detroit, Michigan, produziert seit 100 Jahren, wovon Amerikaner träumen: Jeeps, Pick-ups, Muscle Cars. Jetzt aber malt Wagoner die Lage der einstigen Traumfabrik in düsteren Farben: "Wir starten während eines fundamentalen Wandels der Autoindustrie in unser zweites Jahrhundert."

Keine gute Stimmung in Bochum

Tausende Kilometer über den Atlantik steht in Bochum ein Werk der GM-Tochter Opel. Dort ist die Stimmung noch gut. Als Lehman zusammenbricht, hört es Udo Glantschnig in den TV-Nachrichten. Der 59-Jährige leitet damals die Arbeitsagentur in Essen, heute ist er der Chef in Bochum.

Beides Städte, die unter dem Schrumpfen von Kohle-, Stahl- und anderen Alt-Industrien im Ruhrgebiet leiden. Glantschnig ist seit 30 Jahren bei der Agentur.

Er hält es für seinen Job, sich früh über wirtschaftliche Trends zu informieren. Den Namen Lehman Brothers liest er schon vor der Pleite. Er macht sich schlau, um was für eine Bank es sich da handelt. Er denkt, dass die Pleite vor allem Banken beschäftigen wird, weniger den Rest der Wirtschaft.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, woran Udo Glantschnig merkte, dass die Lehman-Pleite nicht nur Banken betrifft.

Die Angst um die Konten

Oktober 2008:

Richard Fuld versteht die Welt nicht mehr. Er sitzt vor dem Kongress in Washington und sagt: "Ich verstehe einfach nicht, warum Lehman als einziges Institut nicht gerettet wurde." Bis er unter die Erde komme, werde er sich diese Frage stellen. Immer wieder.

Der Rentner Erwin Maurer hat inzwischen in seinen Unterlagen nachgesehen. Auf der ersten Seite steht, die Anleihe sei von der DZ Bank, irgendwo hinten findet er die Angabe "Lehman".

Erwin Maurer dachte, das Produkt sei zu 100 Prozent sicher. Auch weil seine Beraterin ihm das Produkt als sicher verkauft hatte. Er muss lernen: Das stimmt nicht. So wie Erwin Maurer geht es etwa 50.000 Lehman-Anlegern in Deutschland.

Plötzlich fürchtet ganz Deutschland ums Ersparte

Unsicher aber fühlen sich noch viel mehr Menschen. Anfang Oktober fürchtet plötzlich ganz Deutschland ums Ersparte, um die Sicherheit von Konten, Lebensversicherungen, Fonds. Sparer beginnen, ihr Geld umzuschichten, von kleinen Banken zu großen, von ausländischen zu inländischen. Die Bundeskanzlerin versucht die Menschen zu beruhigen, indem sie alle Einlagen garantiert.

Bei der Arbeitsagentur Bochum haben sie dieses Jahr einen Rekord zu melden. Von 190.000 potentiell Arbeitsfähigen sind weniger als 19.000 arbeitslos. Die Arbeitslosenrate ist unter zehn Prozent gesunken - zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert. Zum ersten Mal seit 1983, dem Jahr, als die Deutschen einen gewissen Helmut Kohl zum Kanzler wählten.

Besonders freut es sie in Bochum, dass auch eine ganze Reihe von Menschen einen Job gefunden hat, die seit Jahren nach einer Arbeit suchten. Eine Feier gibt es nicht. Niemand weiß ja, was noch so kommen könnte.

Schnell in Kurzarbeit

Udo Glantschnig merkt, dass die Lehman-Krise nicht nur auf die Banken, sondern auch auf den Rest der Wirtschaft wirkt. Ein Hersteller von Matratzen, mit dem er in Kontakt steht, finanziert sich seit Jahrzehnten auf dieselbe Weise: Die Bank gibt einen Kredit für die Produktion, der nach dem Verkauf der Matratzen zurückgezahlt wird.

Auf einmal sagte die Bank, sie könne diese Kredite nicht mehr geben - nach Jahrzehnten. Der Matratzenhersteller musste schnell Beschäftigte in Kurzarbeit schicken.

Auch von General Motors, der Mutter des Opel-Werks in Bochum, gibt es Nachrichten. Die Autofirma verkauft immer weniger Autos. Nach einem desaströsen Monat setzt die Deutsche Bank das Kursziel der GM-Aktie auf null.

Ein paar Wochen später reist Autoboss Rick Wagoner von Detroit nach Washington. Er soll vor dem Kongress Rede und Antwort stehen. Und er soll vor allem begründen, warum er 18 Milliarden Dollar vom Staat für seine marode Firma haben will.

Keine Hand geht nach oben

Jetzt sitzt er da wie ein Schuljunge in der ersten Bank, neben ihm Alan Mulally, Chef von Ford, und Robert Nardelli, Chef von Chrysler. Wagoner droht, es stünden drei Millionen Jobs in den USA auf dem Spiel.

Ein Abgeordneter bittet die drei Automanager um Handzeichen, wer denn zur Anreise auf einen Flug mit dem Privatjet verzichtet hätte. Keine Hand geht nach oben. Dann fragt er, ob einer von ihnen bereit wäre, den Privatjet zu verkaufen und per Linienflug nach Hause zurückzureisen. Wieder kein Handzeichen.

Zwei Wochen später kommen die Drei aus Detroit wieder nach Washington. Diesmal mit dem Auto. Im Gepäck haben sie das Eingeständnis, nicht rasch genug in spritsparende Modelle investiert zu haben. Insgesamt wollen die Großen Drei 34 Milliarden Dollar.

Lesen Sie auf der dritten Seite, wie Erwin Maurer sein Vertrauen in die Banken verlor.

Die Sorge vor dem Jobverlust

Januar 2008:

Ex-Lehman-Chef Richard Fuld verkauft sein Haus. Für nur 100 Dollar überträgt er seiner Frau die gemeinsame Villa in Florida mit Tennisplatz und Gästehaus. Vor fünf Jahren zahlte er dafür 14 Millionen Dollar. Fuld versucht mit diesem Trick, sein Vermögen vor drohenden Zivilprozessen in Sicherheit zu bringen.

Banken bekommen weltweit immer mehr Geld vom Staat, damit sie überleben. Die Anleger nicht. Erst im Januar gibt die Beraterin von Erwin Maurer auf wiederholtes Bitten den ausführlichen Prospekt zu seinen Anleihen heraus: Er liest, über Risiken und Ausfallwahrscheinlichkeiten, über Provisionen für die Verkäufer.

"Von all dem wusste ich nichts, sonst hätte ich nie gekauft." Maurer hat sein Vertrauen in die Banken verloren. Damit ist er nicht alleine. Unbeliebter waren Banker selten, selbst Sparkassen und Volksbanken haben ihre Unschuld verloren.

Schon wieder 1300 Arbeitslose mehr

Mitte Januar können sie es in der Arbeitsagentur Bochum aus den Zahlen ablesen: Das wird kein guter Monat. Die Arbeitslosenrate steigt wieder über zehn Prozent. Der schöne Erfolg vom letzten Jahr - aus, vorbei. Es sind schon wieder 1300 Arbeitslose mehr.

Vor ein paar Jahren hatte Deutschland fünf Millionen Arbeitslose. Dann gelang es auch durch die Reformen der Agenda 2010, die Zahl auf unter drei Millionen zu drücken. Wie geht es jetzt weiter?

Viel hängt davon ab, wie lange die Firmen durch Kurzarbeit Entlassungen vermeiden. Glantschnig hofft, dass die Unternehmen die Zeit zur Qualifikation ihrer Mitarbeiter nutzen, da habe Deutschland sowieso Defizite.

Wie lange hält der Optimismus?

Doch wenn die Skepsis zu groß und die wirtschaftliche Lage zu schlecht wird, werden die Firmen doch entlassen. "Im Moment ist noch nicht erkennbar, dass der Optimismus verlorengeht", sagt der Chef der Arbeitsagentur. "Aber wie lange das hält?"

Udo Glantschnig weiß, dass die Opel-Mutter GM ums Überleben kämpft. Im Januar bricht der Autoabsatz in den USA um 49 Prozent ein. Das Unternehmen beschäftigt weltweit 266.000 Menschen. Allein bei Opel in Deutschland arbeiten mehr als 25.000. Viele von ihnen bangen um ihren Job. Auch die Beschäftigten bei Opel in Bochum. Im Stadtteil Laer ist das Montagewerk des Autobauers, 5200 Opelaner arbeiten dort.

Lesen Sie auf der vierten Seite, wie sich die Menschen in Bochum wappnen.

Die Unsicherheit wächst

März 2009:

Es ist März, vor einem halben Jahr ging Lehman Brothers pleite. Von Richard Fuld, dem Ex-Chef der Bank, liest und hört man so gut wie nichts. Der ehemalige Gorilla der Wall Street ist abgetaucht. Die Scherben, die er hinterlässt, müssen nun andere aufräumen.

Ein halbes Jahr also, und Erwin Maurer hat immer noch keine Entschuldigung bekommen, keine Entschädigung, keine Erklärung. Er hat gelernt, dass bei der Raiffeisenbank doch Verkäufer arbeiten und keine Berater. Und dass 40.000 Euro weg sind, die er für seine kranke, arbeitslose Tochter angelegt hatte, "damit sie etwas hat, wenn wir mal nicht mehr sind".

Früher immer zum Gratulieren vorbeigekommen

Nachts schläft er schlecht. Er wacht auf und fragt sich, was wird. Mit seinem Geld, seiner Tochter, der Weltwirtschaft. Vor ein paar Tagen ist er 80 Jahre alt geworden. Er hat nicht gefeiert. Früher ist seine Beraterin von der Raiffeisenbank immer zum Gratulieren vorbeigekommen. Dieses Mal nicht. Er ist froh darüber.

Bereits Ende Februar meldete General Motors einen Verlust für 2008 von fast 31 Milliarden Dollar. GM hat seit 2005 insgesamt 70 Milliarden Dollar verbrannt. Der Mutter-Konzern von Opel ist faktisch zahlungsunfähig und überlebt derzeit nur dank eines Überbrückungskredits der Regierung in Washington. GM benötigt, so Rick Wagoner, weitere 16,4 Milliarden Dollar vom Staat, um die Zukunft der Firma sichern zu können.

"Alles ist möglich"

In Bochum diskutieren sie darüber, ob das Opel-Werk überlebt. Wenn nicht, wären 5200 Arbeitsplätze weg, eine Katastrophe für die Stadt. Vergangenes Jahr haben sie schon mal so etwas erlebt, als Nokia sein Handy-Werk schloss und nach Rumänien verlagerte. "Das war ein dicker Blocker für Bochums Entwicklung", sagt Glantschnig. Was wäre, wenn jetzt auch noch das Opel-Werk kaputt geht? "Alles ist möglich", weiß er.

In diesen Tagen, ein halbes Jahr nach der Lehman-Pleite, beobachtet er in der Arbeitsagentur eine Veränderung. Es machen immer mehr Menschen einen Beratungstermin aus, die noch einen Job haben. Sie wollen sich wappnen für das, was da noch kommt.

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