Berlin:Green Card für Autofahrer

Berlin: Moabit hat mit vielen Problemen zu kämpfen, so mit ungesunden Wohnverhältnissen durch eine hohe Baudichte und die Nähe zu den Industriearealen.

Moabit hat mit vielen Problemen zu kämpfen, so mit ungesunden Wohnverhältnissen durch eine hohe Baudichte und die Nähe zu den Industriearealen.

(Foto: Nadine Kulha von Bergmann/OH)

Moabit-West ist Wohnviertel und innerstädtisches Gewerbegebiet. Nun wird es zu einem smarten Quartier umgewandelt. Aber nicht durch Neubauten und Hightech, sondern auf anderen Wegen.

Von Lars Klaaßen

Von emissionsarmer Mobilität über klimaneutrale Energieproduktion bis hin zur Verwendung von Big Data für intelligente Wassernetze: Konzepte für eine "Smart City" werden weltweit in vielen Städten als Antwort auf vielfältige Herausforderungen realisiert. Die meisten Projekte dieser Art entstehen am Reißbrett, werden also komplett neu gebaut. Von Beginn an sind dort Hightech-Anwendungen als integrale Bestandteile eingeplant.

"In bestehenden Stadtquartieren funktioniert das allerdings nicht ohne Weiteres", sagt Nadine Kuhla von Bergmann vom Fachgebiet Chora für Städtebau und nachhaltige Stadtentwicklung an der TU Berlin. "Der Großteil unseres urbanen Lebensraums ist im Bestand und muss behutsam weiterentwickelt werden, um auch in der Zukunft alle nötigen Aufgaben erfüllen zu können."

Im Forschungsprojekt sind auch andere Viertel vertreten, so aus London, Paris und Utrecht

Wie das funktionieren kann, wird derzeit in einem Berliner Innenstadtquartier untersucht - und als Feldversuch gleich in die Praxis umgesetzt: Moabit-West ist nicht nur ein Wohnviertel, sondern mit 43 Hektar auch das größte innerstädtische Industrie- und Gewerbegebiet der Hauptstadt.

Wie die Lebensräume im Quartier angepasst werden können, um ihren Bewohnern eine hohe Lebensqualität zu bieten und gleichzeitig den Herausforderungen des Klimawandels gewachsen zu sein, untersucht das europäische Forschungsprojekt "Smart Sustainable Districts" (SSD). Es wird durch die größte europäische Innovationsinitiative für klimafreundliche Technologien "Climate-KIC" gefördert; bis Ende 2017 erhalten ausgewählte europäische Stadtbezirke jährlich insgesamt 2,5 Millionen Euro. Ziel ist es, zum Thema Nachhaltigkeit Best-Practice-Beispiele zu ermitteln. Neben Moabit-West sind unter anderem Stadtteile aus London, Paris und Utrecht vertreten. Das Berliner Quartier ist das einzige im Bestand.

Forscher des Fachgebiets Chora City & Energy sind an dem Projekt beteiligt und agieren als Bindeglied zwischen den lokalen Akteuren in Moabit und den internationalen Partnern. Dabei können sie an bereits vorhandene Strukturen anknüpfen: Ab 2007 wurde mit Hilfe des Förderprogramms Stadtumbau-West ein Standortnetzwerk aufgebaut, das im November 2009 zur Gründung des Unternehmensnetzwerkes Moabit e. V. geführt hat.

In einer Studie aus dem gleichen Jahr wurden verschiedene Vorschläge und Möglichkeiten aufgeführt, um die Unternehmen zur aktiven Mitwirkung an der Gestaltung des Stadtteils anzuregen. Das Sustainum-Institut für zukunftsfähiges Wirtschaften und andere Fachplaner entwarfen daraus das Stadtteilentwicklungskonzept "Green Moabit". Es bildet die Grundlage für alle Schritte einer nachhaltigen Entwicklung des Gebietes.

"Im Rahmen des Forschungsprojekts kommen auch neuartige Prozesse und Instrumente der Stadtplanung in Moabit West zum Einsatz", erläutert Kuhla von Bergmann, "darunter ein 'Smart Citizen Network Board', das als zentrale Kommunikations- und Anlaufstelle für eine bessere Koordination laufender Aktivitäten zwischen den verschiedenen Akteuren im Quartier und auf Stadtverwaltungsebene sorgt."

Ein zweites neues Element ist der Aufbau eines "District Data Atlas", eine digitale Landkarte, in der alle relevanten Informationen zu laufenden und geplanten Projekten, Beteiligten, Potenzialen und Herausforderungen gesammelt und visualisiert werden sollen. "Der Atlas bildet die Grundlage für zusätzliche Modellierungen, Szenario-Entwicklungen sowie Kommunikations- und Beteiligungsformate", sagt die Architektin. Um konkrete Projekte auszuarbeiten und auf den Weg zu bringen, planen die Wissenschaftler drei große Stakeholder-Workshops sowie Bürgerbeteiligungsverfahren und Ideenaufrufe.

Es werden bereits einige konkrete Projekte angegangen. Ein Problem im Quartier stellt zum Beispiel die Wasserwirtschaft dar. "Bei Starkregen kommt es regelmäßig zu Rückstau im städtischen Mischkanal", berichtet Carsten Spallek (CDU). Der Bezirksstadtrat von Berlin-Mitte, wozu Moabit gehört, leitet die Abteilung Stadtentwicklung, Bauen, Wirtschaft und Ordnung. "In solchen Fällen läuft das Abwasser ungefiltert in die Spree und abgehende Kanale, die das Quartier umfließen." Um das zu verhindern, soll künftig das Regenwasser gesammelt und zur Kühlung der "Classic Remise" genutzt werden. Dieses Oldtimer-Zentrum, eine alte Halle, erhitzt sich im Sommer stark. "Eine einfache, aber hocheffiziente wasser- und energiesparende Kühlung wurde entwickelt, die das Regenwasser nutzt", sagt Spallek. "Dafür waren nur minimale Änderungen an Dach und Fassaden erforderlich." Durch eine enge Kooperation zwischen den beteiligten Unternehmen vor Ort, den Berliner Wasserbetrieben und dem Bezirk Mitte sollen mit diesem Projekt gleich zwei unterschiedliche Probleme gelöst werden. Weitere Anlagen dieser Art sollen folgen.

Eine Rampe für Siemens, Bewegungsmelder für Craiss: kleine Dinge, große Wirkung

Ein weiterer Schwerpunkt des Konzepts ist die Mobilität. Der motorisierte Individualverkehr hat mit einem Anteil von gut 23 Prozent zwar einen niedrigen Wert. Doch viele, die dort in einem der Betriebe arbeiten, pendeln mit dem Pkw ins Quartier. Für sie sollen attraktive Alternativen entwickelt werden. Zu diesem Zweck wird die "Green Card Moabit" konzipiert, ein multifunktionales Mobilitätsticket zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel samt Fahrradmitnahme. Sie soll unter anderem auch Zugang zu Car- und Bike-Sharing-Systemen bieten.

Der Güterverkehr ansässiger Betriebe wird ebenfalls mit neuen Mitteln angegangen. Siemens etwa hat einen Standort mit 3500 Mitarbeitern im Quartier. Dort werden die weltweit größten Gasturbinen hergestellt - und müssen abtransportiert werden. Früher fuhr einmal pro Woche ein Lkw sieben Kilometer von der Fabrik durch Wohnstraßen bis zum Berliner Westhafen. Die Lösung: Am Charlottenburger Verbindungskanal wurde eine Roll-on-roll-off-Rampe, kurz RoRo-Rampe, gebaut. Der Weg der Turbinen über die Moabiter Straßen verkürzt sich dadurch auf 700 Meter.

Zu den zentralen Zielen von "Green Moabit" zählt auch, in den ansässigen Betrieben die Energieeffizienz deutlich zu steigern. Das in Moabit-West ansässige Gewerbe habe für einen Beitrag des Quartiers zum Klimaschutz eine besondere Verantwortung, heißt es. In Zahlen: Das Gewerbe hat an den CO₂-Emissionen im Quartier mit etwa 82 Prozent (ohne Verkehr) den größten Anteil. Davon entfallen 62 Prozent auf den Strom- und 20 Prozent auf den Wärmebedarf, wobei der Strombedarf im Gewerbe fast zwei Drittel der CO₂-Emissionen verursacht. Zu den Firmen, die in diesem Bereich mittlerweile große Fortschritte erzielt haben, zählt das Logistikunternehmen Albert Craiss. Das Gründungsmitglied des Unternehmensnetzwerkes Moabit beschäftigt 450 Mitarbeiter an seinen Standorten. "Vor wenigen Jahren noch gingen vier Fünftel unseres gesamten Energieverbrauchs in Moabit auf das Konto der Lagerbeleuchtung", sagt Olaf Moll, Leiter der Lagerlogistik. "Durch energiesparende Leuchtmittel und die Installation von Bewegungsmeldern und Tageslichtsensoren haben wir den Stromverbrauch nun um über 80 Prozent gesenkt."

Dies ist nur eine von vielen Maßnahmen bei Craiss, und der Logistiker ist nur eines von vielen ansässigen Unternehmen im Quartier. "Über das Unternehmensnetzwerk entdecken wir immer wieder neue Möglichkeiten, effizienter zu produzieren", sagt Moll. Unter anderem erhalten die Mitglieder darüber eine kostenlose Erstberatung zur Energieeffizienz. Das Quartier wird nicht durch spektakuläre Hightech-Lösungen smart, sondern durch Erfahrungsaustausch und die Kooperation der unterschiedlichen Akteure.

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