Architektur mit Beton:Der Stein der Weisen

Durchscheinender Beton: Der unbeliebteste Baustoff der Welt soll in Mexiko-Stadt die Architektur revolutionieren. Wenn das Experiment gelingt, wird sich die Architektur einmal mehr ändern.

Gerhard Matzig

Außer Architekten und Bauindustrie gibt es nur eine Gruppe mit Stimme, die den Beton als Kulturträger zu würdigen weiß. Es ist die Punk-Band S.Y.P.H. aus Solingen, die 1980 die Stampfhymne "Zurück zum Beton" veröffentlichte: "Ekel Ekel Natur Natur / Ich will Beton pur / Blauer Himmel Blaue See / Hoch lebe die Beton Fee".

Natürlich ist die Metrik schmerzhaft, das muss so sein. Davon abgesehen: Wenn eine Punk-Band den Beton gegen die maßgebliche Natur-Romantik verherrlicht, kann Beton nicht mehr tiefer sinken. Davon lebt der Punk seit jeher: Auf rührende Weise kümmert er sich um die Ausgestoßenen und Aussätzigen. Am Beton, der zu den unbeliebtesten, am meisten missverstandenen Werkstoffen der Welt zählt, scheiden sich eben die Geister. Scheinbar kann es kaum etwas Provokanteres geben als die Parteinahme für Beton - gegen See und Himmel.

Allerdings irrt sich der Punk über das Wesen dieses faszinierenden Materials genauso gründlich wie der bekämpfte Rest der Gesellschaft, der auch heute noch "zubetoniert" sagt, wenn er den übermäßigen Landschaftsverbrauch beklagt; und der "Betonbunker" sagt, wenn er menschenfeindliche Architektur anprangert. In der Familie der Baustoffe ist Beton tatsächlich das schwarze Schaf. Holz gilt gemeinhin als natürlich und warm. Stein wird als solide und repräsentativ gewürdigt. Stahl und Glas sind Synonyme der Leichtigkeit und Eleganz.

Nur Beton muss sich vom Punk umarmen lassen, seines schockierenden Potentials wegen. Dabei gehört Beton, Punk und Gesellschaft wissen das nicht, zu den traditionellsten, natürlichsten, wandelbarsten und zukunftsfähigsten Baumaterialien.

"Traditionell" ist der Beton, weil er als Gussmauerwerk schon im Altertum Verwendung fand. Versetzt mit Travertin, Tuff- und Ziegelsplitt wurde er bereits beim Bau des Pantheons in Rom vor 2000 Jahren eingesetzt. Mit einer Form des Leichtbetons konnte damals erstmals ein Kuppelbau die gewaltige Spannweite von 43 Metern stützenfrei überwölben. Das Pantheon war eine unerhörte Sensation, die noch bis in unsere Zeit ausstrahlt.

Beton: überall und seit ewig

"Natürlich" ist Beton auch, da er aus Mörtel und Steinen besteht, Mörtel wiederum aus Wasser, Sand und Zement. Der Zement schließlich ist ein Gemisch aus Calcium, Aluminium und Eisen. "Wandelbar" ist Beton außerdem. Er ist extrem druckfest, kann aber mit Hilfe von Stahl auch Zugkräfte aushalten. Das macht ihn für die Hochtechnologie ebenso interessant wie für den Schiffsbau.

Das Material ist in jede Form gießbar und präzise zu verarbeiten, Beton ist wasserdicht, frostbeständig und wärmedämmend. Man kann ihn färben, steinmetzmäßig bearbeiten, begrünen oder sandstrahlen. Er kann jede Textur und Struktur annehmen. Kein Wunder, dass Beton neben Holz auch der "zukunftsfähigste" Baustoff ist: Jedes Jahr werden davon mehr als fünf Milliarden Kubikmeter verbaut. Die Baugeschichte ist ohne Beton nicht denkbar. Für die Pyramiden wie für den Burj Dubai, der bald als höchster Turm der Welt eröffnet wird, war und ist Beton eine Art Stein der Weisen.

All das hat aber nichts an seinem erbärmlichen Image geändert.

Der durchlässige Beton

Das könnte anders werden, wenn vom 1. Juli an das bisher größte Bauexperiment mit transluzentem Beton in Mexiko-Stadt beginnt. Beton, der die Architekturgeschichte in der Antike und auch in der Moderne (als Stahlbeton) revolutioniert hat, könnte dann ein drittes Mal Furore machen - diesmal aber womöglich mit einhergehendem Imagewandel.

Denn diesmal geht es um Licht. Der seit einigen Jahren entwickelte transluzente, also bis zu einem gewissen Grad lichtdurchlässige Beton, der in Mexiko-Stadt in einer bisher einmaligen Größenordnung zum Einsatz kommt, berührt Fragen der Energieeffizienz wie Aspekte der Fassadensprache und Ästhetik. Wenn das Experiment gelingt, wird sich die Architektur einmal mehr ändern.

Die paradox anmutende Verbindung von Transparenz und Festigkeit, von Glas und Beton, ist im Jahr 2001 erstmals dem ungarischen Architekten Àron Losonczi geglückt. Er nannte seine mit Glasfasern versetzte Erfindung "Litracon": Light Transmitting Concrete. Losonczi steigerte in den Jahren danach die Lichtdurchlässigkeit von Beton bis zu 70 Prozent. Die Fachwelt war in Aufruhr. Doch dann ist es wieder stiller geworden um das Wundermaterial. Zum einen, weil es sehr teuer ist; zum anderen, weil es keinen Bauherrn gab, der das Material im großen Stil austesten wollte.

Transluzenz contra Transparenz

Die Architekten Ebner + Sanchez, eine interessante Verbindung von Wien und Mexiko-Stadt, hatten das Glück, einen Wettbewerb für den Erweiterungsbau ausgerechnet des größten lateinamerikanischen Bauunternehmers zu gewinnen. Das neue ICA-Hauptquartier in Mexiko-Stadt, 120 Meter lang und dreigeschossig auf wenigen Stützen ruhend, soll eine umlaufende Fassade mit Lamellen aus transluzentem Beton erhalten.

Der von Sosa / Omar weiterentwickelte, strukturell veränderte und sogar elektrisch leitfähige Beton bietet bereits eine Lichtdurchlässigkeit von 80 Prozent. Für das Bauvorhaben wurden einige tausend Testzylinder erprobt, schließlich darf sich ein Bauimperium dieser Größe bei diesem Projekt nicht blamieren.

Nach einer halbjährigen Testphase wird das ICA-Vorhaben nun der bislang umfassendste Beitrag zur Weiterentwicklung des neuen, lichten Betons der Zukunft. Transluzenz könnte von Mexiko aus aber auch eine Antwort sein auf die westliche Architektur der Transparenz, die sich schon seit einigen Jahren als gestalterische Sackgasse erwiesen hat.

Geschichte der Transparenz

Die Lichtdurchlässigkeit (Transluzenz) würde demnach die Blickdurchlässigkeit (Transparenz) ablösen - also der schon klassisch gewordenen, einst gefeierten Glasarchitektur vom Beginn der Moderne als zeitgemäße Variante folgen. Der Londoner Kristallpalast von Joseph Paxton, 1851 erbaut, war damals das Fanal, dem eine ganze Reihe berühmter Bauten folgten: etwa das Maison de Verre von Pierre Chareau, ein privates, ungeheuerlicherweise aus Glasbausteinen ersonnenes Wohnhaus in Paris (1931) - oder das von Philip Johnson entworfene, skandalös einsichtige Glass House in Connecticut (1949).

Das totale Auflösen tragender Strukturen, das vollständige Ineinswerden von Licht und Raum: letztlich ist es die Idee der gotischen Kathedrale, die bis in die Jetztzeit zunehmend banalisiert und bis zur Groteske gesteigert wurde. In Zaha Hadids Feuerwehrhaus in Weil am Rhein weigerten sich schließlich die Leute, die Toiletten aufzusuchen: Sie waren allzu einsichtig. Und bei der Eröffnung der von Jean Nouvel entworfenen Fondation Cartier in Paris konnten jedenfalls die berockten Damen durch eine Glasdecke nur ungenügend beschützt werden - vor den Blicken aus den unteren Etagen. Die Glasarchitektur wurde lächerlich.

Zuletzt befriedigten die gläsernen Fassaden auch im stadträumlichen Kontext nicht - denn Glas, sofern es nicht erleuchtet ist, ist immer nur als dunkle Fläche wahrzunehmen. Der neue Beton könnte daher die müde gewordene Licht-Architektur beleben.

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