Architektonische Geschichte:Vorne Ambiente, hinten Oase

Lesezeit: 4 min

Stadtpalais mit verwunschenem Garten: Das Radspielerhaus im Münchner Hackenviertel ist eine Institution.

Georg Etscheit

Eigentlich erwartet man nicht, in der Münchner Innenstadt solch einen Garten zu finden. Gärten, wie es sie in Rom, Florenz oder Palermo gibt, wo sich hinter der Fassade manch nobel verwitterten Palazzos verwunschenes Grün verbirgt: dämmrige Oasen der Stille inmitten der geschäftigen Großstadt.

Doch hinter dem Radspielerhaus im Hackenviertel nahe des Sendlinger Tors gibt es solch ein kleines Paradies von Menschenhand mit einem etwas verwilderten Rasen, verwachsenen Beeten, efeuberankten Bäumen, allerlei Terracotten und einem Brunnen, der zurzeit aber trocken liegt. Hier könnte man sich Rainer Maria Rilke vorstellen, wie er mit eleganter Feder seine Verse drechselt: "Komm in den totgesagten Park und schau ..."

Von diesen Stadtgärten habe es in München einmal etliche gegeben, sagt Hubert von Seidlein, dem der Garten zusammen mit seinem Bruder Rasso gehört und auch das Radspielerhaus, von dem hier eigentlich die Rede sein soll. Es ist streng genommen kein Haus, sondern ein Palais. Einst gehörte es den Grafen zu Rechberg. Dann kaufte es der Vergolder und Innenausstatter Josef Radspieler. Der heutige Besitzer ist Radspielers Nachfolger in der 5. Generation.

Hubert von Seidlein hat noch das Vergolderhandwerk gelernt. Doch heute handelt er - ja, womit eigentlich? Von Seidlein weiß es selbst nicht so recht. Lauter gediegene Sachen finden sich in seinem Geschäft im Erdgeschoss des Radspielerhauses, das aus einer labyrinthischen Flucht hoher Räume besteht und einer malerisch unaufgeräumten Privatwohnung gleicht.

Irdenes Geschirr, edle Gläser, feine Stoffe und allerlei gehobene wohnliche Accessoires finden sich hier, nebst Möbeln vorzugsweise aus eigener Werkstatt im schlichten Stil der zwanziger Jahre. Ein Drittel seines Umsatzes erzielt von Seidlein mit Damenmode. "Ich verkaufe alles außer Drogen, Fahrzeugen und lebenden Tieren", scherzt der Geschäftsmann. "Der Radspieler" ist eine Institution in München.

Also, wie ist das mit der Geschichte des Radspielerhauses? "Schwierig", sagt Herr von Seidlein, lässt sich entschuldigen und kehrt nach einer guten Viertelstunde zurück, unterm Arm ein Packen staubiger, alter Akten und Pläne, zum Teil in Sütterlinschrift, die der 77-Jährige noch zu lesen versteht.

Aus den Unterlagen geht hervor, dass das Radspielerhaus einst aus zwei getrennten Häusern bestand, eines an der früher deutlich engeren Hackenstraße, das andere schloss sich, um die Ecke führend, daran an. Seit 1678 sollen sich beide Häuser im Besitz des kurfürstlichen Revisionsrates Johann Rudolf Wämpl befunden haben, der an ihrer Stelle einen Neubau errichten ließ. Bedeutende Persönlichkeiten wie die Wittelsbacher-Herzöge Albrecht Sigismund und Maximilian Heinrich, beides Bischöfe, stiegen hier ab.

1688 erhielt Freiherr Gaudentius von Rechberg, kurfürstlich-königlich- bayrischer Kämmerer, das Anwesen als Geschenk in "Ansehung getreulich geleisteter Dienste". Die Familie Rechberg beherbergte in ihrem Stadtpalais unter anderem den französischen General Bastoul. Der wurde in der Schlacht bei Hohenlinden schwer verwundet - am 3. Dezember 1800 hatte die napoleonische Armee nahe des oberbayerischen Ortes die österreichisch-bayerischen Koalitionstruppen vernichtend geschlagen - und hier von den Rechbergs bis zum Tod gepflegt.

Vielseitiger Namensgeber

1848 kaufte Josef Radspieler das Haus zum stolzen Preis von 60.000 Gulden. "Wahrscheinlich bekam er das Geld vom Vater seiner englischen Ehefrau Maria Hatton", sagt von Seidlein. Radspieler sei eine sehr dynamische Persönlichkeit gewesen.

Der Handwerker avancierte schnell zum königlich-bayerischen Hoflieferanten und stattete die Schlösser König Ludwigs II. mit prachtvollen Möbeln aus eigenen Werkstätten aus. Auch politisch war Radspieler aktiv. Das Gründungsmitglied der Bayerischen Patriotenpartei bekämpfte in Zeiten des nationalen Überschwangs die von Bismarck favorisierte "kleindeutsche Lösung" unter Führung Preußens und Ausschluss Österreichs.

Zu Radspielers Zeiten ließ man die Hackenstraße verbreitern, um der Stadt ein großzügigeres Gesicht zu geben. Die Rückseite des Palais wandelte sich zur Frontseite. Außerdem stockte Radspieler bei dieser Gelegenheit das Haus auf. Heute präsentiert es sich im schlichten frühklassizistischen Stil mit einem bossierten (aufgerauhten) Sockelgeschoss und mehreren schmückenden Erkern. Radspieler starb 1904. Anfang des vergangenen Jahrhunderts gelangte das Haus durch Erbschaft in die Obhut der Familie von Seidlein.

Wenn Hubert von Seidlein nicht in seinem weitläufigen Geschäft umhereilt, findet man ihn ein Stockwerk darüber in seiner Privatwohnung. "Ich bin etwas chaotisch", entschuldigt er die Tatsache, dass er den Gast in seinem Geschäft empfängt.

Hier trifft man immer mal wieder auf Kunden, die nach etwas Passendem für die eigenen vier Wände Ausschau halten. Ein Herr sucht einen CD-Ständer aus Kirschbaumholz. "Wir haben etwas aus hellem europäischen Kirschbaum oder dunklerem amerikanischen Kirschbaum", erklärt der Verkäufer. "Das muss ich erst einmal meine Frau anrufen", entgegnet der Kunde.

Kleine Dult

Einst gab es im Radspielerhaus 25 Mietparteien, erinnert sich von Seidlein. "In den sechziger Jahren haben wir das Haus aber großenteils in Büros umgewandelt. Wir waren die Scherereien mit den Mietern leid." Außer ihm wohnen weitere Familienmitglieder in dem Haus. Ein nicht zur Familie gehörender Mieter, der seit Kriegsende hier gelebt hatte, zog gerade aus. Hubert von Seidlein liebäugelt mit dem Gedanken, auch diese Wohnung in Geschäftsräume zu verwandeln.

Den verwunschenen Garten nutzt von Seidlein heute als eine Art Freiluft-Verkaufsraum für Gartenmöbel. Einmal im Jahr baut er ein Zelt auf, in dem er eine "kleine Dult" veranstaltet, den Ausverkauf. Der trocken gefallene Brunnen mit dem Putto, der auf einem Delfin reitet, sei undicht, eine Reparatur teuer, sagt von Seidlein. Deshalb habe er bislang von einer Wiederinbetriebnahme abgesehen.

Auch der Dichter Heinrich Heine muss den Garten gesehen haben. Er war 30 Jahre alt, als er in die bayerische Residenzstadt kam, und schon berühmt. Während seines Aufenthaltes in den Jahren 1827/28 wohnte er im Rechberg-Palais und wartete täglich auf seine Berufung als Literaturprofessor an die Universität.

Doch König Ludwig I. mochte den Freigeist nicht, sodass Heine die Stadt frustriert verließ. "Kleingeisterei von der großartigsten Art" attestierte er der Stadt und ihren Bürgern, den König, der ihn so schäbig behandelt hatte, titulierte er abschätzig als "Kunsteunuchen". Am 7. Juli 1828 rollte Heines Kutsche durchs Sendlinger Tor gen Süden. "Weg nach Italien" soll hinten auf einem Schild zwischen den Rädern zu lesen gewesen sein.

© SZ vom 22. 6. 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: