Zwang zum Speichern:US-Firmen klagen über Datensammelwut

Löschen verboten: In Erwartung möglicher Gerichtsverfahren müssen amerikanische Unternehmen E-Mails und andere Dokumente lange aufbewahren. Bei vielen Firmen sind Umfang und Kosten der gesammelten Daten drastisch gestiegen. Die Wahrheit habe eben ihren Preis, sagen Bürgerrechtsanwälte.

Von Joe Palazzolo, Wall Street Journal Deutschland

Während die Datensammelwut der US-Geheimdienste unersättlich zu sein scheint, wollen amerikanische Unternehmen weniger Informationen speichern. Die Konzerne sind nach einer Serie von Prozessen dazu gezwungen, sensibles Material lange Zeit aufzubewahren, sofern es in dieser Angelegenheit zu einem Gerichtsverfahren kommen könnte. Der Energieriese Exxon Mobil wies deswegen mehr als 5.000 Mitarbeiter an, kein einziges Dokument von ihren Computern oder anderen Geräten zu löschen. Hunderte Microsoft -Beschäftigte sitzen auf Millionen alter E-Mails, Arbeitsdokumenten und Chatnachrichten.

Die Unternehmen horteten über das vergangene Jahrzehnt wahre Datenberge, sagen deren Rechtsanwälte. Ein Flickenteppich von Gerichtsurteilen habe sie übervorsichtig werden lassen. Konzerne wie Exxon und Microsoft steuern jetzt gegen und machen bei den US-Bundesgerichten Druck. Sie wollen nicht mehr am Pranger stehen und bestraft werden, wenn sie unbeabsichtigt Beweismaterial löschen, das in Zivilprozessen hätte verwendet werden können. Sie fordern stattdessen eine neue einheitliche Richtlinie, die weniger Speicherungen verlangt. Die Kostenersparnisse wollen die Unternehmen in ihr eigenes Geschäft investieren.

Microsoft-Mitarbeiter sitzen auf Millionen alter E-Mails

Doch die Offensive stößt auf massive Bedenken. Anwälte von Klägern beschweren sich: Die Unternehmen könnten nach Belieben Material speichern oder löschen, wenn sie ein Verfahren auf sich zukommen sehen. "Das behindert die Suche nach der Wahrheit", sagt die Bürgerrechts-Anwältin Jennifer Klar.

Unternehmen dürfen Unterlagen regelmäßig löschen, wenn es zweckmäßig erscheint. Die Pflicht zur Aufbewahrung greift erst, wenn von einem Rechtsstreit "vernünftigerweise" ausgegangen werden muss. Ein Brief von einem Anwalt gilt als ein solch klares Signal. Die Bundesrichter erwägen jetzt ein Ende strenger Sanktionen bei Verstößen gegen diese Regel. Drakonische Strafen sollen erst drohen, wenn Beweismaterial "absichtlich oder in böser Absicht" zerstört wird. Letztlich muss das oberste US-Gericht, der Supreme Court, über die mögliche Änderung entscheiden.

Der Rechtsprofessor William Hubbard aus Chicago nahm die Kosten der Dokumentenspeicherung unter die Lupe. In einer Umfrage unter 15 Großunternehmen fand er heraus, dass in den meisten bedeutenden Gerichtsverfahren zehn bis zwanzig Angestellte Material aufbewahren mussten. In vielen kleineren Prozessen waren von der Pflicht aber hunderte, mitunter sogar tausende Angestellte betroffen. "Wenn die Kosten addiert werden, landet man bei einer ziemlich hohen Summe, die nicht ins Geschäft fließt", sagt Hubbard.

Mitarbeiter müssen immer mehr Daten speichern

Rund 5.200 frühere und heutige Exxon-Angestellte müssen laut dem Rechtsberater des Unternehmens, Robert Levy, Daten speichern. Insgesamt müssten die Beschäftigten jährlich mehr als 200.000 Stunden aufwenden, um diese Verpflichtungen zu erfüllen, schätzt er. "Wir geben mehrere zehn Millionen Dollar pro Jahr allein schon für entgangene Arbeitszeit aus."

Prozesse gegen Großkonzerne sind ziemlich verbreitet und enden häufig nicht mit Schadensersatzzahlungen.

Trotzdem schoss die Datenmenge, die durchschnittlich jeder Microsoft-Angestellte sammelt, von 17 Gigabyte vor zwei Jahren auf inzwischen rund 30 Gigabyte nach oben, sagt Rechtsberater Jon Palmer. Vorsorglich hat die Software-Firma für jeden Prozess durchschnittlich 60 Millionen Seiten gespeichert. Im Schnitt fließen nachher weniger als 90 Seiten ins Verfahren ein. "Jeder baut diese enormen Heuhaufen auf, nur aus dem Grund, dass er vielleicht ein paar Nadeln darin finden könnte", sagt Palmer.

45 Prozent der US-Angestellten des britischen Pharmakonzerns Glaxo Smith Kline müssten Daten abspeichern, sagte Rechtsberater Dan Troy jüngst bei einer Anhörung. Das US-Geschäft habe mehr als die Hälfte seiner elektronischen Korrespondenz abgelegt. Das seien 203 Terabyte oder rund das 20-Fache aller gedruckten Seiten der US-Kongressbibliothek. Es gebe allerdings nur selten Strafen wegen Vernichtung von Beweismaterial, werfen Rechtsexperten ein. Microsoft wurde noch niemals deswegen belangt, wie ein Sprecher sagt. Exxon hatte einmal Probleme mit der Justiz wegen weggeworfener Faxe.

Den Unternehmen graut in Geschworenenprozessen vor einem gravierenden juristischen Tiefschlag. Ein Richter kann der Jury darlegen, dass das Unternehmen Beweismaterial zerstört hat. Automatisch könnte dann argumentiert werden: Die Dokumente hätten die Klage der Gegenpartei gestützt. "Das muss zwar nicht ein kompletter K.O. sein, aber sobald die Geschworenen davon hören, ist das typischer Weise das Ende", bekräftigt Rechtsexperte Kenneth Withers.

In Gerichtsverfahren nutzten Klägeranwälte diese Drohkulisse oft zu ihrem Vorteil, heißt es bei Unternehmen. Sie pochten auch häufig darauf, dass aufwändig nach bestimmten Dokumenten gesucht wird, was einen mehrere Millionen Dollar teuren Aufwand bedeuten könne. Deswegen einigte man sich häufig lieber sofort auf einen Vergleich, als viel Zeit und Geld beim Durchforsten von Millionen elektronischer Dateien aufzuwenden.

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