Zukunft des Internets:Orwell, Huxley, Utopien

Der Autor und Netz-Historiker John Naughton über die Ambivalenz des Internets, die Sinnlosigkeit von Prognosen und warum das Netz glücklicherweise dumm ist.

Johannes Kuhn

Was macht das Internet so unberechenbar? Wohin entwickelt es sich? Mit seinem vielbeachteten Essay Everything you need to know about the internet hat der britische Autor John Naughton eine neue Debatte über das Wesen des Netzes angestoßen.

John Naughton Internet Zukunft

Der Autor John Naughton schrieb bereits im Jahr 2000 eine Geschichte des Internets. Zukunftsvorhersagen hält er für problematisch.

(Foto: John Naughton)

Naughton hat bereits im Jahr 2000 mit A Brief History of the Future ein Standardwerk zur Geschichte des Internets vorgelegt. Der 64-Jährige lebt in der Nähe von Cambridge, wo er Direktor des Wolfson Press Fellowship Programme ist. Der ehemalige Journalist lehrt im britischen Fernuniversitätsprogramm "Öffentliches Verständnis der Technik" und schreibt eine regelmäßige Kolumne für die britische Zeitung Observer.

sueddeutsche.de: John Naughton, was wissen wir über die künftige Entwicklung des Internets?

John Naughton: Die ehrliche Antwort lautet: Sehr wenig. Das Internet ist eine globale Maschine, die Überraschungen hervorbringt. Wir können nichts vorhersagen, und das ist wirklich erstaunlich.

sueddeutsche.de: Aber gehen wir zu weit, wenn wir behaupten, das Internet wird immer stärker zum Zentrum unserer Kommunikationsumgebung?

Naughton: Selbst das ist nicht sicher. Als der 11. September passierte, dachte ich: Das ist das Ende der Bürgerrechte, wie wir sie kennen. Stellen Sie sich nun eine koordinierte Cyberattacke vor, die wichtige Teile des Netzes in einflussreichen Ländern lahmlegt: Die Regierungen würden als Reaktion den Zugang zum Netz beschränken, das Internet wäre nicht mehr das, was wir heute kennen.

sueddeutsche.de: Trotz dieser Gedankenspiele argumentieren Sie in Ihrem Essay, das wir die Internetentwicklung auf uns zukommen lassen sollen. Bedeutet dies, dass wir alle Internetberater heimschicken können?

Naughton: Es bedeutet erst einmal, dass wir sehr skeptisch mit unserem vermeintlichen Wissen umgehen sollten. Wir müssen das Netz in einer historischen Perspektive sehen: Der Ökonom Joseph Schumpeter hatte diese Vorstellung des Kapitalismus, dass alle 25 Jahre Wellen kreativer Zerstörung über unsere Wirtschaft hinwegrollen. Alte Industrien werden zerstört, neue enstehen, wodurch sich der Kapitalismus erneuert. Wir haben nun eine neue Schumpeter-Welle, und wir können nicht vorhersagen, wie unsere Gesellschaft und Wirtschaft danach aussehen werden. Wir sollten weniger hysterisch sein und nicht dauernd nach Menschen suchen, die alles zu wissen scheinen.

sueddeutsche.de: Aber das Wissen über ein nachhaltiges Geschäftsmodell im Internet würde viele Branchen interessieren ...

Naughton: Als Anfang des 20. Jahrhundert das Radio erfunden wurde, war es zunächst als Standverbindung zwischen zwei Punkten konzipiert. Die Menschen dachten: Das ist also das Radio, eine Fortentwicklung des Telegraphen. Nach einiger Zeit wurde es zu einem Medium, durch das wenige mit vielen kommunizieren konnten - und 25 Jahre lang versuchten Unternehmen, ein Geschäftsmodell für dieses neue Medium zu finden, viele Firmen entstanden, viele gingen gleich wieder pleite. Ausgerechnet Procter & Gamble gelang der Durchbruch, indem es ein Format entwickelte, das vor allem Frauen ansprach und so für steigende Umsätze sorgte: die Seifenoper. Wir werden Geschäftsmodelle für das Netz finden, sie werden sogar für mehr Wohlstand sorgen.

Das Netz ist dumm - und das ist gut so

sueddeutsche.de: Sie sprachen von der Überraschungsmaschine Internet. Was in der Architektur des Netzes macht es so unvorhersehbar?

Internet Welle WWW

Ob Zukunftsforscher, Web-Evangelisten oder ganz normale Nutzer: Die Frage zur Zukunft des Internets beschäftigt uns alle.

(Foto: iStock)

Naughton: Die Väter des Internet-Vorgängers Arpanet machten etwas Schlaues: Sie bauten ein Netzwerk, das eigentlich dumm ist. Es kann nur Datenpakete am Punkt A aufnehmen und an Punkt B wieder ablegen, was in den Paketen ist, interessiert es nicht. Das führt zu zwei wichtigen Punkten: Erstens gibt es keine Kontrolle, zweitens ist es agnostisch, welche Applikationen so geschaffen werden. Es liegt in der Hand der Nutzer ...

sueddeutsche.de: ... die selbst für Überraschungen sorgen.

Naughton: Genau. So konnte eine kleine Gruppe um Tim Berners-Lee in Genf 1990 das Web erfinden. Sie haben es einfach auf einen Server gestellt und mussten niemanden um Erlaubnis fragen. Neun Jahre später bastelt Shawn Fanning die Tauschbörse Napster, Skype erlaubt uns, über das Internet zu telefonieren. Wenn Sie ein Netzwerk richtig designen möchten, dürften sie nicht nur danach gehen, was wir bereits wissen.

sueddeutsche.de: Gleichzeitig erlaubt das Internet auch den Transport von schädlichem Code oder die von Ihnen angesprochen Botnetze.

Naughton: Natürlich, deshalb ist es eben nicht nur eine Utopie, sondern beherbergt auch Gefahren. Neil Postman hat einmal gesagt, die Erkenntnisse zweier Schriftsteller würden die Buchrücken unserer Zukunft bilden: Aldous Huxley und George Orwell. Huxley vertrat die Ansicht, dass wir von den Dingen zerstört werden, die wir lieben. Das iPad, das iPhone - das sind alles Geräte aus einer Huxley-Welt, denn sie können uns in Apples kleinem, abgeschlossenen Universum gefangen halten. Orwell hingegen glaubte, dass uns die Dinge zerstören, vor denen wir Angst haben: Regierungen haben durch das Internet die Möglichkeit, theoretisch unser aller Gedankenströme und Äußerungen zu überwachen oder es wie China als sehr subtile Propagandamaschine zu nutzen.

sueddeutsche.de: Welche Begehrlichkeiten weckt das Internet?

Naughton: Im Moment wollen es alle zu fassen bekommen: große Unternehmen, Medienkonzerne, Regierungen. Aber der Kampf um die Kontrolle ist immer nur bis zu einem gewissen Grad erfolgreich. Alle reden über Google, und es ist sicherlich ein beeindruckendes Unternehmen - doch noch vor zehn Jahren haben wir so über Microsoft gesprochen. Facebook ist heute die große Sensation, vor ein paar Jahren war es MySpace. Ich sage deshalb: Lehnen wir uns zurück - das alles ist die Gegenwart, nicht das Ende. Wer weiß, vielleicht sehen wir in 100 Jahren selbst das World Wide Web nur als kleinen Punkt auf der großen Zeitleiste des Internets.

sueddeutsche.de: Sie halten sich mit Prognosen zurück. Aber vielleicht können Sie uns verraten, was Ihrer Ansicht nach die drängendsten Probleme sind, die wir im Zusammenhang mit dem Netz lösen müssen.

Naughton: Wir müssen endlich zu einem besseren Verständnis des Internets kommen. Gerade Regierungen müssen verstehen, dass sie bei Entscheidungen über die Regulierung sehr vorsichtig vorgehen müssen. Am schlimmsten ist es in den USA, aber auch in der Europäischen Union werden Gesetze ohne breite gesellschaftliche Diskussion verabschiedet. Hinzu kommt, dass das bisherige Urheberrecht kaputt ist. Es muss auf globaler Ebene in Ordnung gebracht werden, weil es überhaupt nicht auf die Gegebenheiten einer vernetzten Welt passt. Im Moment kann ich allerdings nicht sehen, wie wir hier zu einer Lösung finden können.

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