Zukunft des Internet:Totgesagte leben länger

Schon vor dem Herbst ist die Fachgemeinde mal wieder vom Netzpessimismus ergriffen. Dieser Fatalismus ist jedoch völlig fehl am Platz.

Niklas Hoffmann

Die Tage werden bereits kürzer, lange schien der August sich seiner Rolle als Sommermonat nicht mehr recht stellen zu wollen, und dann hob auch noch der Netzpessimismus sein graues Haupt. "Null Blog" herrsche bei Deutschlands Jugend, meinte vor kurzem erst der Spiegel erkannt zu haben. Die vermeintlich digitale Generation kenne und verstehe vom Netz viel weniger als vermutet und bedürfe dringend medienpädagogischer Anleitung. Und nun ist es dafür vielleicht auch schon zu spät, jedenfalls wenn man Wired glaubt, das immerhin als führendes Fachblatt für die Netzkultur in seiner nächsten Ausgabe das Ableben des World Wide Web verkündet.

"Das Web ist tot. Lang lebe das Internet", ist die aus zwei Teilen bestehende Titelgeschichte von Chris Anderson und Michael Wolff überschrieben. Gemeint ist damit der bekannte Trend zu funktionalen Apps, den Anwendungsprogrammen für Geräte wie das iPhone oder den Mobiltelefonen und Netbooks, die mit Googles Betriebssystem Android arbeiten. Wer sie nutzt, bewegt sich zwar weiterhin im Internet, aber eben nicht mehr in der Freiheit des per Browser zu durchforstenden World Wide Web. Co-Autor Michael Wolff legt dar, mit welchem Nachdruck eine neue Generation von Medienunternehmern, von Apple-Chef Steve Jobs und Facebook-Gründer Marc Zuckerberg hin zu weniger bekannten russischen Großinvestoren, daran arbeiten das bislang weitgehend offene Netz durch einen lukrativen Marktplatz möglichst hermetischer Unterhaltungsangebote zu ersetzen.

Diese Beobachtungen sind durchaus treffend. Doch Chris Anderson will jetzt schon das Ende der Geschichte kennen. Dafür trickst er unnötigerweise mit einer auf den ersten Blick beeindruckenden Grafik, die belegen soll, dass der Anteil der Web-Nutzung am Gesamt-Traffic des Internets in den vergangenen zehn Jahren bereits drastisch zurückgegangen sei, zugunsten etwa von Video-Streams. Aber erstens vergleicht die Abbildung Prozentanteile an Gesamtdatenmengen, nicht die Datenmengen selbst, die insgesamt, und so auch im Web, in den letzten Jahren weiter gewachsen sind.

Web bei bester Gesundheit

Zudem sagt das Datenaufkommen noch nichts über die von den Nutzern verbrachte Zeit aus. Bei einem einminütigen Video-Clip ist die Datenmenge jedoch weit höher als bei einer Textdatei, deren Lektüre eine Viertelstunde dauert. Und schließlich sind Seiten wie YouTube, die größten Anlaufstellen für den Konsum bewegter Bilder, ja zweifellos integrale Teile des World Wide Web. Bereinigt man die Grafik jedoch um derartige Schummeleien, kann man mit ihrer Hilfe dem Web schwerlich auch nur einen schwachen Puls diagnostizieren.

Dennoch, Chris Anderson sieht das Internet der letzten Jahrzehnte an einem offenbar vorherbestimmten Ende angekommen. "Das alles war unvermeidlich", schreibt er. Es ist dieser technologische Determinismus, der an dem Wired-Artikel so besonders befremdet. Das World Wide Web hat, geht man nach Anderson, Triebe geschlagen, ist aufgeblüht, und nun welkt es, hinter einem vom Kapitalismus errichteten Zaun dahin, während in Nachbars Garten schon die Apps knospen. Anderson denkt in der unerbittlichen Logik von Erntezyklen. Derartige Zwangsläufigkeiten aber sind der Technikgeschichte fremd, dafür sind ihre Seiten- und Irrwege zu vielfältig. Alexis Madrigal hat für TheAtlantic.com eine sehr klare Replik verfasst, die ohne den schnippischen Tonfall auskommt, mit dem viele Online-Medien auf die Wired-Provokation reagiert haben.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Madrigal Wired-Chef Anderson entgegen hält.

Generation "Null Blog"

Madrigal bezweifelt nicht den soliden, deskriptiven Gehalt des Artikels, fragt sich aber, woher Andersons Glaube an das Unausweichliche der von ihm aufgezeigten Trends komme. Der schieren Existenz einer Technologie schreibe Anderson eine normative Kraft zu, die sich historisch keinesfalls belegen lasse: "Es gibt zu viele Forschungen, die gezeigt haben, dass Technologien und Systeme durch soziale Bewegungen, Ereignisse und Regierungen, durch politische Ideen und außergewöhnliche Zufälle in eine (ungestaltete) Form gebracht werden."

Die Rahmenbedingungen für Technologien sind gestaltbar und beeinflussen wiederum deren Wirkungsmacht. Die Tatsache, dass die Technik der Handfeuerwaffen in der Welt ist, prägt eben aus vielerlei Gründen das Leben in Luxemburg erheblich weniger als das in Kolumbien. So ist nun auch nicht vorherbestimmt, wie etwa der erwartete Siegeszug des mobilen Internets uns prägen wird. Denn die Versuche, für dieses Feld zum Beispiel die Netzneutralität für obsolet zu erklären sind nicht Fingerzeige des Schicksals, sondern Wegscheiden; Herausforderungen, denen sich die digitale Gesellschaft auch stellen kann.

Der Spiegel staunt indes über seine Generation "Null Blog", über die Kinder und Jugendlichen also, die zwar mit dem Internet aufgewachsen, überraschenderweise aber der realen Welt durchaus zugetan sein sollen. Der Einfluss des Netzes auf die nächste Generation, und ihr Interesse daran, so der Tenor des Artikels, müsse doch weit überschätzt sein. So spiele das Internet eine "paradoxe Rolle" für einen der beschriebenen Jungen: "Er nutzt es ausgiebig - aber es interessiert ihn nicht. Es ist unverzichtbar, aber nur, wenn sonst nichts anliegt." Aber zeigt es einen Bedeutungsverlust an, wenn das Netz von diesen Kindern nicht mehr als "ungemein neu und anders" angesehen wird, als "revolutionäre Macht, die alles packt und umformt", wie der Spiegel schreibt, sondern als "normal"?

Schiefe Rechenmethode

Dann muss es wohl auch ein Zeichen für die schwindende Bedeutung des Automobils gewesen sein, als die Menschen aufhörten, sich auf der Straße nach jedem Wagen umzudrehen. Diese Jugendlichen nutzen das Netz so beiläufig, gerade weil es voraussetzungsloser, selbstverständlicher und allgegenwärtiger Teil ihres Lebens ist. Prozentual am Medienangebot gemessen haben ihre Großeltern vor 50 Jahren viel mehr ferngesehen, nämlich alles was zwischen Sendebeginn und Sendeschluss gezeigt wurde; dazu noch viel konzentrierter, im abgedunkelten Zimmer dicht vor der Mattscheibe sitzend. Diese Art des Umgangs mit dem Medium ist passé, und damit wäre das Fernsehen nach Chris Andersons Rechenmethode wohl tot. Ganz so scheint es nicht zu sein.

Kaum eine Antwort auf die Wired-Titelgeschichte kommt ohne den Rekurs auf Mark Twain aus, und tatsächlich wirken die Gerüchte vom Hinscheiden des Webs stark übertrieben. Aber es befindet sich in einem Prozess der Anpassung an veränderte technische Möglichkeiten, an ein verändertes Nutzungsverhalten und nicht zuletzt an ökonomische Interessen. Dessen genauer Ausgang ist offen. Na und? In einem E-Mail-Wechsel mit Chris Anderson, den Wired dokumentiert, hat Tim O'Reilly, der Vordenker des Web 2.0, es so formuliert: "Ich werde zugeben, dass das Web tot ist, wenn du zugibst, dass ein Kind tot ist, sobald es erwachsen wird."

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