Zehn Jahre Facebook:Vereinigte Daten

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Facebook vernetzt die Welt - nicht ohne Gefahren für die Nutzer. (Foto: Facebook)

Zwischen Ersatzfamilie und unheimlichem Monopolisten: In den zehn Jahren seines Bestehens hat Facebook das Internet mit einer sozialen Schicht überzogen. Millionen überlassen dem Konzern ihre Daten. Immer öfter fragen sie sich, was damit passiert. Denn an Facebook reizt nicht das eigene Leben - sondern das der anderen.

Von Stefan Plöchinger

Um sieben Jahre Leben aus der Nirgendwelt des Netzes herunterzuladen, braucht es auf Facebook vier Klicks, zwei Mails, zwei Passwortabfragen und vier Minuten Wartezeit. Dann steht der Download des eigenen Profils bereit, zapp, auf die Festplatte gesaugt: 17,2 Megabyte digitale Existenz. Schnappschüsse, persönliche Nachrichten, öffentliche Räuspereien, Telefonnummern, ein Register von 1219 echten und falschen Freunden, der Name des Partners, "Gefällt mir"-Spuren - alles, was der Menschensammelmaschine des Mark Zuckerberg zur freundlichen Gestaltung ihres Social Networks und ihres Geschäftsmodells überlassen wurde.

Dann durch endlose Listen geblättert mit den eigenen Vorlieben, den Status-Updates seit dem 8. April 2007, 20.49 Uhr, dem eigenen Beitrittsmoment, der ebenso erfasst ist wie die Orte der Urlaubsfotos. Weitergeklickt. Nach ein paar Minuten die Lust verloren.

An Facebook reizt das Leben der anderen - nicht das eigene.

Es geht um das Leben von potenziell 1,2 Milliarden anderen, so viele Menschen nutzen das Netzwerk nach Angaben von Facebook monatlich, und mögen die Megabyte-Haufen jedes einzelnen noch so langweilig sein, wenn man sie für sich betrachtet: Die Summe ist hier mehr als die Teile.

Facebook wird nun ein Jahrzehnt alt. Anfangs war es Web 2.0, die soziale Weiterentwicklung des Internets zum Netz der Menschen, heute ist es für viele das Web an sich - die soziale Startseite in den Tag, das Betthupferl, der Bürounterhalter, Ersatzfamilie und Kontaktbörse, politischer Revolutionsbeschleuniger, digitale Apparatur des globalgesellschaftlichen Gewebes, Milliardenstar des Silicon Valley, Plattform für Flashmobfreunde und alte Bekannte. Es ist ein Tausendding. Eine neuartige Infrastruktur, die sich in einem Tempo über die Welt gelegt hat wie wenige zuvor.

Wer Freunde auf Facebook fragt, was sie über zehn Jahre Facebook denken, erlebt Hassliebe. Das größte soziale Netzwerk der Welt ist vielen Mitgliedern unheimlich geworden. Menschen, die ihr Leben in diese Maschine legen, wundern sich, wie es verwurstet wird, sie fragen: Wer kapiert eigentlich noch, was Zuckerbergs Algorithmus da präsentiert? Wer verhindert, dass diese Maschine noch mächtiger wird, dieser Datenkrake, der doch eh vom Staat abgeschöpft wird? Der bräuchte Konkurrenz, Kontrolle, die Emanzipation der Nutzer. Und, ach, recherchier mal: Wann kommt dieses System eigentlich an seinen toten Punkt? Ist es da vielleicht schon? Und wäre das nicht sogar gut, damit der Zuckerberg nicht überschnappt?

Das System

Zum Unternehmensjubiläum haben Forscher den Niedergang der Plattform vorhergesagt. Sie haben Modelle für Krankheitserreger auf Kurven zur Facebook-Entwicklung angewendet: Erst infizieren sich alle, dann sackt die Kurve abrupt ab. Die Forscher prognostizieren ein Absterben binnen drei Jahren.

Zweifel an der Rechnung sind erlaubt. Aber vermutlich ist das für Kritiker eine legitime Sicht: Facebook als Erreger einer Krankheit, die Totaldigitalisierung heißt. Leben in Datenbanken gepackt, mit Algorithmen durchgescannt, total werbevermarktet. Derweil werden die Menschen selbst voneinander entfremdet, durch die Digitalisierung ihrer Beziehungen. "Facebook ermöglicht es dir, mit den Menschen in deinem Leben in Verbindung zu treten", verspricht das Netzwerk jenen, die sich anmelden (als stünde man mit den Menschen in seinem Leben nicht in Kontakt), "und Inhalte mit diesen zu teilen." Auch das kann man gut analog.

Zehn Jahre Facebook
:Die vielen Gesichter des Gesichtsbuchs

Vor zehn Jahren ging Facebook an den Start, als digitales Jahrbuch für Studenten. Mittlerweile hat sich nicht nur die Zahl der Nutzer stetig erhöht - auch das Aussehen hat sich massiv verändert. Ein Blick zurück in Bildern.

Nur ist es digital oft angenehmer.

Facebooks Erfolg gründet - seit den frühen Tagen als Bostoner Vergleichsplattform für die Attraktivität von Studentinnen - auf Zerstreuungslust und Voyeurismus und auf praktischen Erwägungen. Menschen, die man lange nicht gesehen hat oder lange nicht mehr sehen will, kann man hier kontaktieren, ohne sie echt kontaktieren zu müssen. Die Suche nach dem richtigen Nähe-Distanz-Verhältnis, das viele menschliche Beziehungen erschwert, weicht hier einer wohligen Dauerdistanz bei gefühlter Nähe. Darauf kann man ein Milliardengeschäft gründen.

Facebook verleitet wie kein anderes Angebot dazu, sich digital daheim zu fühlen. Es bietet Diskussionsgruppen, einen praktischen E-Mail-Ersatz, Flirt-Chats, Flashmob-Einladungen - und vor allem die Neuigkeiten von Freunden. Wer im Büro oder in der S-Bahn geistigen Unterdruck hat, bekommt dort in einer durchdesignten Infowelt zerstreuende Links von Freunden und Firmen zugespielt, vermittelt durch einen Algorithmus, der anhand von Klicks zu erraten versucht, was für ein Mensch man ist. Syrien-Videos? Die 35 unglaublichsten Szenen aus "Breaking Bad"? Eine Katze, die einen Hund angähnt? Privates, Reklame und Eilmeldungen bunt gemischt, jeder präsentierte Link wird permanent geschmacksgetestet.

Facebook formt aus vermuteten Vorlieben eine persönliche Filterblase, die manche Neuigkeiten groß macht und viele andere versteckt. Doch der komplexe Algorithmus ist für Nutzer gespenstisch. Keiner versteht, was da passiert: Warum sieht man ausgerechnet dieses Foto von einem alten Schulfreund, nicht aber, dass der Arbeitskollege geheiratet hat? Auch bei Google ist eine Geheimformel am Werk, aber sie funktioniert in der Regel; sie findet, was man sucht, man wundert sich selten. Das ist bei Facebook anders.

Abermillionen Nutzer nehmen es hin, weil es zur Zerstreuung reicht. Außerdem, was wäre die Alternative?

Der Lock-in

Das Internet neigt zu Monopolen. Ist eine Seite gut, kommen viele Menschen; die Seite wächst, bekommt Geld, wird besser, mehr Menschen folgen - ein essentieller Effekt gerade bei einem Social Network, bei dem Massen naturgemäß weitere Massen locken. Aus Sicht jedes Marktwirtschafters ist es ein Teufelskreis, denn durch den Netzwerkeffekt wird nur der Größte größer, Kleinere sterben. Google ist so als einzige relevante Suchmaschine übrig geblieben und Facebook als kompletteste Community der Welt.

In ihrer Algorithmen-Raffinesse haben beide Konzerne viel gemein und sind nun Rivalen. Beide unternehmen eine Art ständige Rasterfahndung auf ihren Serverfarmen, um das Wesen ihrer Nutzer zu erahnen und zu vermarkten, mit maßgeschneiderten Annoncen. Es ist das modernste Spiel des großen Geldes, Big Data, und es wird gespielt, ohne dass die Nutzer viel von der Maschinerie mitbekommen. Dabei stehen sie in deren Zentrum.

Facebook lebt von den Daten seiner Nutzer und bietet dafür eine Freunderlwirtschaft, der gerade keiner Konkurrenz machen kann. Was es in Deutschland an Plagiaten und Rivalen gab, von StudiVZ bis "Wer kennt wen", ist passé. Twitter ist hierzulande nur einen Bruchteil so groß, Google Plus ein Nerd-Netz, Tumblr nischig für die Jungen. Was ist das noch für ein Markt?

Lock-in nennt man, wenn eine Industrie es schafft, Kunden durch Produktmechanik dauerhaft an sich zu binden. Facebook muss seine Kunden nicht mehr binden, es ist derzeit ein Solitär. Wer könnte all die Nutzer noch zum Social-Network-Neuanfang bewegen, wo sie doch aus Menlo Park so nett bespaßt werden?

In Menlo Park sitzt Facebook dort, wo eine hässliche Brücke über die Bucht von San Francisco führt. Die Zentrale wirkt von außen wie eine Bürotrutzburg, die auch in Unterschleißheim stehen könnte. Aber drinnen: alles stylish, rundum renoviert, Großraum mit Komfortzonen, Gratisgetränken und -essen, ein bunter Hof voll junger Geeks, die in einer Zeitschrift "Hipper Wohnen" schaulaufen könnten. Man wähnte sich fast in einer Utopie, einem Disneyland des Digitalen, würde nicht ein Sicherheitsmann - nur zur eigenen Sicherheit - die Reportergruppe über das hart gesicherte Gelände eskortieren. Er tut es gründlich, bis auf die Toilette.

Hassliebe: Das größte soziale Netzwerk der Welt ist vielen Mitgliedern unheimlich geworden. (Foto: Dirk Schmidt/Illustration)

Was für ein Kontrast zum Filmepos "The Social Network", das vor drei Jahren die Start-up-Zeit des leicht sozial gestörten Harvard-Studenten und Programmierers Mark Zuckerberg als Kapuzenpulli-Faszinosum schilderte, mit dem Gründer in Adiletten und Bademantel. In Menlo Park kultivieren sie solche Legenden alter Zeiten, aber die Legende lebt ein anderes Leben, das des gereiften CEO, der seit dem Börsengang an seine Shareholder denken muss.

Ebenfalls vor drei Jahren rebellierte halb Nordafrika gegen seine Despoten, und soziale Netzwerke halfen, den Aufstand zu organisieren. Facebook fordert - nicht allzu nachdrücklich, aber im Grundsatz doch - von seinen Nutzern Klarnamen, wozu den Aktivisten des arabischen Frühlings kaum zu raten wäre. Macht das Social Network für sie eine Ausnahme? Schützt es Aufständische? In Menlo Park sagt eine Sprecherin auf Nachfrage, für den Schutz der Leute könne man keine Verantwortung übernehmen. Man biete bloß eine Plattform zur Vernetzung an.

Verantwortung, was ist das für Facebook? Für diesen Konzern, der laut Zuckerberg auch die verbleibenden sechs Milliarden Menschen vernetzen will?

Die Gefahr

Facebook hat seinen Privatsphärenschutz wiederholt aufgeweicht, nach Protesten wieder härter eingerichtet, auch plausibler gemacht - aber weil viele Nutzer Grundeinstellungen nicht mehr ändern oder zu ändern vermögen, stehen sie nun exponierter im Internet, als sie vielleicht wollen. Eine Suchfunktion des Netzwerks erlaubt jedermann, zum Beispiel ein Register aller Deutschen zu erstellen, die bei der NPD "gefällt mir" gedrückt haben. Oder aller Männer in Uganda, die für die Homo-Ehe sind. Natürlich gibt jeder Nutzer freiwillig an, dass er die NPD oder die Homo-Ehe mag. Aber weiß auch jeder, dass man zum Beispiel solche Listen generieren kann? Welcher Staatsschützer träumt nicht von einer Apparatur, in der sich Menschen mit ihren Vorlieben outen und in Sekundenschnelle katalogisierbar sind? Und wieso sollte ein Konzern, der von solchen Angaben lebt, weil sein Werbemodell darauf basiert, Zurückhaltung empfehlen?

Wer ist wichtiger: Die Nutzer, die von größeren Teilen des Systems wenig verstehen, oder die Aktionäre? Und falls die Sache irgendwann außer Kontrolle geriete: Wer könnte eine private Infrastruktur wie Facebook überhaupt wieder unter Kontrolle bringen?

Wenn ein Unternehmen die Menschen mit einer neuen Idee beglückt, dann den Markt dominiert, sein Monopol zementiert, seine Verantwortung ein paar Mal zu oft negiert, dann ist das Geschrei in der Regel groß. Stellen wir uns kurz vor, es ginge hier um die Deutsche Bahn, ARD und ZDF, die Telekom. In Europa wird der Staat gefragt, wenn ein Markt zwecks Gemeinwohl zu regulieren ist. Bei US-Konzernen hat ein europäischer Staat keine Chance.

Zehn Jahre Facebook
:Die vielen Gesichter des Gesichtsbuchs

Vor zehn Jahren ging Facebook an den Start, als digitales Jahrbuch für Studenten. Mittlerweile hat sich nicht nur die Zahl der Nutzer stetig erhöht - auch das Aussehen hat sich massiv verändert. Ein Blick zurück in Bildern.

Die Geschichte des ersten Facebook-Jahrzehnts ist auch eine Tragödie der staatlichen Überforderung. Das Internet entwickelt sich schneller, als die Politik mithält. Daten- und Verbraucherschützer begehren selten auf und scheitern regelmäßig. Unvergesslich, wie die damalige Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ilse Aigner, durch einen Facebook-Austritt Macht demonstrieren wollte. Die Episode war der Höhepunkt des Aufbegehrens.

Eine Infrastruktur wie Facebook mag für viele Menschen so wichtig sein wie die Telekom oder die Bahn, aber die laxen Regeln, denen sie untersteht, werden designed in California. Facebook.com ist eine US-Domain. Wenn Deutsche, Australier oder Ugander auf sie zugreifen, gelten Standards aus Menlo Park.

Die Folge ist ein Markt- und Kulturexport, der gute Seiten hat und schlechte. Wehe, Nutzer veröffentlichen ein Bild einer stillenden Mutter, gar eine Aktaufnahme auf einem Zeitschriftentitel: Facebook mahnt Nutzer ab, wenn nur ein Hauch Erotik durchschimmert.

Bilder brachialer Gewalt werden dagegen toleriert, auch Hasskampagnen gegen Andersdenkende und Minderheiten. Dieser Kodex folgt einem US-Konsens zwischen öffentlicher Prüderie und sonst schrankenloser Meinungsfreiheit. Die Moral auf Facebook ist eine sehr amerikanische; westliche Werte anderen Zuschnitts sind ihr fremd.

Was hätte eigentlich der junge Zuckerberg getan, wenn ihn das gestört hätte?

Die Hacker

Im Facebook-Hof in Menlo Park hängt eine Vintage-Reklame: "The Hacker Company", eingekauft von einem Unternehmer namens Roger Hacker in Florida. Hacken - im übertragenen Sinn - ist kultiviertes Konzernziel. Eine Reminiszenz an frühe Zeiten.

Es ist zugleich das einzige Prinzip, das Facebook selbst gefährlich werden kann.

Zur Geschichte des sozialen Internets gehört, dass es Massenspontanität ermöglicht, die keiner erwartet. Den Abstieg von MySpace haben wenige für denkbar gehalten, als das Netzwerk auf seinem Höhepunkt war. Facebook hat MySpace gehackt, weil es praktischer und cooler war. Wer könnte Facebook hacken?

Gedankenspiel: Was wird aus einem Dienst wie WhatsApp in den kommenden zehn Jahren? Mehr als 400 Millionen Menschen auf der Welt nutzen den Mitteilungsdienst inzwischen nach Firmenangaben. Umsonst SMS schicken, Status-Updates, Gruppenchats: Was, wenn dazu noch eine Pinnwand für Freunde kommt? Was, wenn WhatsApp ein praktischeres Social Network aus sich macht? Oder wenn SnapChat das tut - oder eine andere Menschensammelmaschine, die wir noch nicht kennen? Instagram, die Foto-Community, hat Zuckerberg nicht zuletzt aus Angst davor gekauft.

Wenn ein Social Network seine Marktmacht nutzt, seine Verantwortung missachtet, die Kontrolle durch den Staat versagt - dann ist es die Macht der Masse, die es noch in Schach halten kann. Seine Daten zurückzuholen und sich für immer abzumelden, braucht auf Facebook nicht viel: sechs Klicks, drei Mails, drei Passwortabfragen und fünf Minuten Wartezeit.

Nur, wer würde das jetzt schon tun?

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