Wikileaks-Gründer darf ausgeliefert werden:Assange im Opfermodus

Seit 540 Tagen steht Wikileaks-Chef Julian Assange unter Hausarrest. Sein Ruf hat in dieser Zeit stark gelitten. Die Auslieferung nach Schweden könnte eine Chance sein, den Vergewaltigungsvorwurf gegen ihn endlich zu klären. Doch der Australier gefällt sich darin, Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen.

Johannes Kuhn

Der vorläufige Tiefpunkt seines Lebens blieb ihm erspart: Als der britische Supreme Court Julian Assanges Berufung gegen die Auslieferung nach Schweden ablehnte (Urteil im Original hier als pdf), befand sich der Wikileaks-Gründer nicht im Gerichtssaal - ein typischer Londoner Verkehrsstau hatte ihn aufgehalten.

Julian Assange

Julian Assange: Wikileaks-Gründer

(Foto: Getty Images)

Doch weil das Assange-Drama inzwischen schon Überlänge hat, ist auch das aktuelle Gerichtsurteil zur Auslieferung noch nicht das Ende: Innerhalb von 14 Tagen können seine Anwälte eine Wiedereröffnung des Falls beantragen, weil sich Assanges Verteidigerin zufolge die Mehrheit der Richter auf ein internationales Abkommen berufen hat, von dem bei der Verhandlung nie die Rede war. Sollte dies abgelehnt werden, könnte der Australier versuchen, vor den Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg zu ziehen und damit einen weiteren Aufschub erreichen.

540 Tage lang steht Assange inzwischen unter Haussarrest. Seit seinem Einzug in das Landgut eines Freundes in der ostenglischen Grafschaft Norfolk hat sich viel verändert. Die letzte relevante Wikileaks-Enthüllung ist schon mehr als ein Jahr her; die im April 2011 veröffentlichten Geheimakten über Guantanamo-Insassen dürften das letzte Material aus dem Datenschatz amerikanischer Sicherheitsbehörden sein, das Wikileaks zugespielt wurde.

Assange macht sich zum Verschwörungsopfer

In den USA sitzt der Soldat Bradley Manning deshalb unter unwürdigen Bedingungen in einem Militärgefängnis und erwartet im Herbst das Urteil eines Militärgerichts. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe.

Auch die Rolle Assanges hat sich verändert. Als Wikileaks zum globalen Phänomen wurde, hatte sein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein Idealisten in aller Welt fasziniert. Seitdem zahlreiche Mitstreiter die Organisation im Streit verlassen haben und der Australier sich immer häufiger als Opfer einer Verschwörung stilisiert, wirkt er auf viele nicht mehr tragisch, sondern schlicht egoistisch. Dass er für den russischen Sender RT, der als äußerst kremlnah gilt, eine Talkshow moderiert und dort Hassan Nasrallah, dem Chef der schiitischen Hisbollah im Libanon, allzu unkritisch entgegentrat, fanden Menschenrechtler befremdlich.

Was wird aus Wikileaks?

Hinzu kommen die Vorwürfe der Göteborger Staatsanwältin Marianne Ny, die Assange beschuldigt, in Stockholm zwei Frauen sexuell belästigt und eine von ihnen vergewaltigt zu haben. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob Assange gegen den Willen der Frauen und mit Gewalt durchgesetzt hat, dass der grundsätzlich einvernehmliche Sex ungeschützt erfolgte.

Der Ablauf der Ermittlungen wirft einige Fragen auf - doch statt sich darauf zu konzentrieren, die schwedische Staatsanwaltschaft für ihre fachliche Arbeit zu kritisieren, machte Assange sich mit Aussagen wie "Schweden ist das Saudi Arabien des Feminismus" oder "Ich mag ein chauvinistisches Schwein sein, aber ich bin kein Vergewaltiger" nur wenig Freunde.

Auch stellte Wikileaks die skandinavischen Strafverfolger immer wieder als Handlanger der USA dar, die Assange vor allem nach Schweden holen, um ihn später an die amerikanischen Behörden ausliefern zu können. Dass US-Außenministerin Hillary Clinton Anfang Juni im Zuge einer Reise durch Nordeuropa auch in Stockholm Station macht, wertet Wikileaks in einer aktuellen Pressemitteilung dann gleich als Zeichen einer Verschwörung. Dort heißt es: "Wir können davon ausgehen, dass die US-Agenda zur 'Internet-Freiheit', die in der nächsten Woche in Schweden diskutiert werden soll, auch Julian Assanges sofortige Auslieferung zum Thema haben wird - wenn nicht sogar im Fokus stehen wird."

Was Wikileaks verschweigt: Eine Auslieferung aus England wäre für die USA deutlich einfacher. Bei einem Transfer von Schweden in die USA müssten nicht nur die skandinavischen Behörden, sondern auch das britische Außenministerium zustimmen. Die US-Regierung dementiert bereits seit längerem, dass Gespräche über eine Auslieferung Assanges stattfinden. Auch die Aussage des Wikileaks-Chefs, in Amerika unter Umständen mit der Todesstrafe rechnen zu müssen, wirkt übertrieben. Auch wenn die australische Regierung Assange kritische beurteilt, dürften die öffentliche Aufmerksamkeit und drohende diplomatische Verwicklungen mit Assanges US-Staatsanwälte davor zurückschrecken lassen, diese zu fordern - falls es überhaupt jemals zu einer Anklage kommen sollte.

Den Zenit überschritten

Sollte Assange nach Schweden transferiert werden, dürfte sich innerhalb weniger Wochen entscheiden, ob die dortige Staatsanwaltschaft Anklage erheben wird. Sollte der 40-Jährige verurteilt werden, drohen ihm bis zu zwei Jahre Haft. Die Einstellung der Ermittlungen oder ein Freispruch wären hingegen ein Triumph für Assange - und wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, seinen Ruf wiederherzustellen.

Unabhängig vom Ausgang der Assange-Saga ist zweifelhaft, ob Wikileaks jemals wieder den regulären Betrieb aufnehmen wird. Das Interesse des Gründers, seine Plattform für andere Zwecke als das Eintreiben von Spenden für seinen Prozess zu nutzen, scheint eher gering.

Seit September 2010 können Whistleblower dort keine Dokumente mehr hochladen, die letzten Veröffentlichungen von Präsentationen und Katalogen von Überwachungsfirmen deuten darauf hin, dass die Seite eher zu einer Aktivisten-Plattform wird. Das Drama um Julian Assange mag noch nicht zu Ende sein - Wikileaks selbst hingegen hat den Zenit überschritten.

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