Web-Roman:Das richtige Leben im falschen

Natalie Pollocks Profilseite bei Facebook ist eine Inszenierung unter Millionen im Netz. Doch Natalie Pollock ist anders: Sie ist eine Erfindung, die Protagonistin eines Web-Romans.

Alexander Tieg

Natalie Pollock mag Zucchini-Schokoladen-Muffins und Horrorfilme. Der aktuelle Freund der 16-jährigen Schülerin heißt Josh, und sie wünscht sich nichts mehr, als die zehnte Klasse "in einem Stück zu überleben". So steht es auf ihrer Seite bei Facebook, dem weltgrößten Online-Netzwerk, daneben ein Foto von einem hübschen langhaarigen Mädchen in kurzen Jeans-Shorts.

Der Haken bei der Geschichte: Natalie Pollock existiert gar nicht. Beziehungsweise: nur im Internet. Bei Facebook und Twitter. Die 16-Jährige ist die Protagonistin des Jugendbuches My Darklyng (grob übersetzt: "Mein düsterer Liebling"), einem Werk der Autorinnen Laura Moser und Lauren Mechling, das wie seine Hauptfigur ebenfalls nur im Netz zu finden ist, auf der Website des amerikanischen Onlinemagazins Slate.

Den ganzen Sommer über haben Mechling, eigentlich Redakteurin des Wall Street Journal, und Moser, Ghostwriterin von Promi-Memoiren, Natalie Pollocks Geschichte erzählt. Vor wenigen Tagen ist die letzte von 33 Folgen erschienen. Es wäre vermutlich übertrieben, das Projekt schon jetzt als bahnbrechend zu bezeichnen, dafür ist es zu klein, die Zahl der Leser zu niedrig. Dennoch zeigt die Arbeit der Autorinnen anschaulich, was im Netz in Sachen "Leserbindung" inzwischen alles möglich ist.

Fremd-Inszenierung im Netz

Das Wesen sozialer Netzwerke ist die Inszenierung - das weiß jeder, der schon mal ein eigenes Profil angelegt hat. Dieses Prinzip machen sich die Autorinnen zu Nutze. Sie spielen damit. Unter all die Selbst-Inszenierungen fügt sich ihre Performance nahtlos ein.

Die Story: Natalie möchte unbedingt auf das Titelbild einer Jugendbuchserie über Vampire. Das misslingt zwar, doch seit dem Casting fürs Coverfoto wähnt sie einen mysteriösen Stalker hinter sich - und schon bald vermischen sich Natalies düstere Lieblingsgeschichten mit ihrem eigenen Alltag.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Leser von MyDarklyng selbst zum Teil des Web-Romans wurden.

Das Gesicht von Natalie Pollock

Der Plot, der sich offen an die aktuelle Vampir-Manie der Twilight-Reihe ranhängt, entfaltet sich häppchenweise. Natalie erhält rätselhafte Nachrichten ihres Stalkers, die auch auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht werden. Wer den Alltag des Mädchens im Netzwerk verfolgt, kann die Hinweise selbst kommentieren und wird so zum Teil der Geschichte.

Ein wenig wirkt das Ganze wie die Wiedergeburt des klassischen Briefromans mit digitalen Mitteln. Nur, dass der Brief hier die Form eines Pinnwandeintrags annimmt und die Autorinnen ihre Leser dort finden, wo sie immer häufiger ihre Zeit verbringen: im elektronischen Netzwerk. "Schreibt man über irgendeinen Teenager im Jahr 2010", sagt Mechling, "wäre es falsch, Facebook und Twitter nicht zu nutzen." Schließlich verbrächten viele Teenager jede freie Minute im Netz. Dazu komme ihr Hang, sich mitzuteilen und Dinge öffentlich gut oder doof zu finden.

Sie und ihre Co-Autorin, sagt Mechling, hätten sich dem Mediennutzungsverhalten junger Menschen angepasst: "Jedes Mal, wenn die Leser eine Internetseite besuchen, und relevante Informationen zur Geschichte finden", sei es so, als hätten sie eine Schatzsuche gewonnen. Kleine, versteckte Zusatzinformationen hielten auch die leicht ablenkbaren Leser im Geschehen.

Etwa 1000 Abonnenten haben Natalie Pollocks Abenteuer am Ende verfolgt. Eine davon war Hannah Grosman: das Mädchen, das der Romanfigur ihr Gesicht lieh. Die Amerikanerin zeigt sich inzwischen nicht nur auf ihrer echten Facebook-Seite mit einem Foto, das ursprünglich für die Rolle Natalies entstanden ist. Auch kommentieren ihre wahren Freunde, das, was sie so von sich preisgibt - auf fiktiven ebenso wie auf der echten Profilseite. Aber welche Geschichte, die auf Facebook erzählt wird, ist nicht irgendwie fiktiv?

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