Web-Idee Tilde.Club:Was wir von einem Retro-Netzwerk lernen können

Tilde.Club

Ein visueller Webring bei Tilde.Club (Nutzer: ~notjos).

(Foto: Screenshot Tilde.Club)

Die Mitglieder des Netzwerks Tilde.Club bauen Webseiten im Stil der Neunziger - das Netz ist hingerissen. Über eine Idee, die das vielleicht beste ist, was im Internet seit langem passiert ist.

Von Johannes Kuhn, San Francisco

Das Internet ist zivilisiert. Wir leben in den Silos der Netzgiganten und bewegen uns in den luftdichten Gefäßen unserer Apps. Wir kaufen, kommunizieren und publizieren digital. Wir sind vermarktbar und vermarkten uns. Die Aufmerksamkeitsökonomie steckt in jedem unserer Facebook-Beiträge.

Paul Ford zeigt uns die Welt jenseits der Silos. Der Programmierer und Autor hat einfach nur das getan, was das World Wide Web so großartig gemacht hat: Er hat etwas gebastelt. Ohne Hintergedanken und besonderen Zweck.

Tilde.Club ist kein Facebook-Killer, vielleicht nicht einmal ein soziales Netzwerk. Ford hat einfach einen Server gemietet und seinen Twitter-Followern Zugang zum Webspace angeboten, um dort etwas hochzuladen. Betrunken sei er gewesen, schrieb er später, vielleicht aber auch etwas nostalgisch: Das Tilde-Zeichen (~) ist ein Signal aus den Frühzeiten des Webs, das meist Nutzernamen vorangestellt war, die auf einem Server Speicherplatz hatten (hier eine detailliertere Erklärung).

Fords Initiative ging durch die Decke, was dort passiert, ist vergleichbar mit der Frühphase des Webs, sozusagen den Jahren nach dem Urknall: Hunderte wollten Zugänge und begannen unter ihrem kleinen Webspace (tilde.club/~Nutzername), Seiten zu basteln - und das, obwohl die Bedienung wie in der Frühzeit des WWW nur über Kommando-Zeilen möglich ist.

Ein paar Beispiele:

Außerdem gibt es inzwischen Übersichten über jüngst aktualisierte Seiten und einen Webring, jene zufällige Verbindung von Seiten, die in den Neunzigern vor Verzeichnissen und Suchmaschinen die Weiten des Netzes erkundbar machte. Das Netz überschüttete Ford mit Lob, ein Unbekannter schob ihm 24 Dollar unter der Wohnungstür durch.

Man könnte das ganze als Reiz des Retros abtun, doch es steckt mehr dahinter. Was Tilde.Club so erfrischend macht, ist das Fehlen eines Zwecks: es ist einfach ein Ort, an dem Menschen das Web bevölkern. "Es gibt kein Geschäftsmodell, keine Relevanz für Marken und nichts zu optimieren", schreibt Ford, "die Seite konkurriert mit nichts - weil es ein einfacher Computer ist wie Millionen von anderen."

Die Freiheit der Zwecklosigkeit

Menschen, die etwas hochladen und ein loses Netzwerk ohne Zweck bilden. Das ist wenig und gleichzeitig ziemlich viel in einer Zeit, in der es um Geschäftsmodelle und Marktmacht geht, in der uns jede Seite ein "Besuch' mich und komm bald zurück" entgegenschreit und unsere Handlungen längst den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie genügen. In der eine Facebook-Alternative wie Ello nicht einmal mehr Dezentralität anbietet, sondern nur einen vermeintlich anderen Umgang mit den Nutzerdaten.

In den Neunzigern hätte Fords komplettes Netzwerk Tausende von Dollar gekostet, im Zeitalter des Cloud Computing nur noch einen zweistelligen Betrag. Die Bedingungen, etwas im Web zu basteln, sind also so gut wie nie. Startups wissen das, doch die Nutzer schrecken vor den technischen Hürden zurück, begeben sich in ihrer Bequemlichkeit in die Welt der Großunternehmen, wo sich alles zusammenklicken lässt. Identität, und das ist vielleicht der größte Verlust der vergangenen 25 Jahre, definiert sich im Web längst nicht mehr über Unabhängigkeit.

Nun wird Tilde.Club kein Startschuss für eine neue Do-it-yourself-Bewegung im Web sein (derzeit gibt es aufgrund der hohen Nachfrage einen Aufnahmestopp). Aber das kleine Projekt ist eine Erinnerung. Daran, was das Internet einst war - und was es im Kern immer noch ist: Verbundene Computer, die Menschen zusammenbringen.

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