Virtual-Reality-Filmfest:Mächtiger als Kino

VR-Filmfest in New York

Sie sieht was, was Sie nicht sehen; auf dem VR-Filmfestival in New York.

(Foto: Hakan Tanriverdi)

Virtual-Reality-Brillen gelten als Schnickschnack für die Spiele-Industrie. Bis man sich die Brille aufsetzt und die zerbombten Straßen Syriens sieht.

Von Hakan Tanriverdi, New York

Bei van Gogh wird mir übel.

Ich trage Kopfhörer und eine Virtual-Reality-Brille. Filmfest in Brooklyn, 300 Menschen sind gekommen. Sie bilden lange Schlangen, es gibt 18 Filme und Kurzfilme zu sehen. Wer die Brille aufsetzt, sieht nicht nur aus wie Robocop, er kann sich auch entscheiden: Es gibt Animationen zu sehen, Dokumentationen über Syrien - und eben Kunst von Vincent van Gogh.

Ich stehe in einem virtuellen Nachbau seines berühmten Ölgemäldes "Das Nachtcafé". Die Farben sind längst nicht so knallend wie im Original. Aber dafür kann ich bestimmen, wo ich hinschauen will und mich durch das Bild bewegen: Gehe ich in Richtung Billardtisch oder lieber aus dem Zimmer? Regisseur Mac Cauley hat einen Klavierspieler mit in die Szenerie genommen. Ich entscheide mich, ihm beim Spielen zuzuschauen.

"Virtuelles Laufen Lernen"

In einem Brief schrieb van Gogh über dieses Ölgemälde, dass er das Café als Ort zeigen wollte, "wo man sich ruinieren, wo man verrückt werden" kann. Ich dürfte mir zumindest selbst meine Kleidung ruinieren, wenn ich die Brille weiter trage und durch das van goghsche Café laufe. Mein Gehirn hat Probleme, zu verarbeiten, dass ich auf einem Stuhl sitze, es aber gleichzeitig virtuelle Bewegung registriert. Mir ist noch Stunden später schwindlig.

Die Menschen hier nennen diese Art des Schwindels "virtuelles Laufen lernen". Man gewöhne sich schnell an den Effekt, ein paar Filme würden ausreichen, sagt zum Beispiel Avram Dodson, einer der Regisseure, die ihr Werk präsentieren. "Virtual Reality ist sehr mächtig. Wir können Dinge erreichen, die für klassische Filme unerreichbar bleiben", sagt er. Alles sei neu, es gebe keine Grenzen. Wenn ein Zuschauer in einer virtuellen Umgebung angestarrt werde, sei dieser Blick viel intensiver als der eines Schauspielers, der in einem traditionellen Kinofilm in die Kamera schaut.

Virtual Reality gehört zu jener Art Technologie, die hauptsächlich von der Faszination dessen lebt, was irgendwann möglich sein könnte. Facebook kaufte für zwei Milliarden Euro die Firma Oculus Rift, noch bevor diese ein marktreifes Produkt vorzuweisen hatte. Doch wer sich durchliest, wie Mark Zuckerberg die Übernahme begründete, spürt seine Hoffnungen. "Die Technologie der Oculus Rift könnte komplett neue Arten der Erfahrung ermöglichen", schrieb er.

Zuckerberg ist nicht allein mit seinem Optimismus. Firmen wie Samsung und HTC haben ebenfalls in VR-Brillen investiert, das Video-Portal Youtube wird Nutzern bald ermöglichen, 360-Grad-Filme hochzuladen.

"Die spannendste Technologie, die wir finden konnten"

Aber noch ist die Technik zu lasch, die Grafik wirkt oft klobig, weil die Rechenleistung für geschmeidige Übergänge schlicht fehlt. Die Ideen sind unausgereift. "Es gibt keine Regeln", sagt Dodson. "Wir müssen erst herausfinden, wie wir spannende Geschichten erzählen können." Wer genügend Animationen anschaue, vergesse irgendwann, dass er eine VR-Brille trage. Der Neuheits-Effekt verblasse schnell. "Ab da wollen die Menschen Geschichten, die es wert sind, dass man sie anschaut."

Die Medienfirma Ryot, die von Entwicklungshelfern gegründet wurde, weiß heute schon, wie sie Geschichten erzählen will. Sie präsentiert hier zwei Dokumentationen, einmal aus der syrischen Stadt Aleppo und einmal aus Nepal, kurz nach dem Erdbeben. Die Brille befördert Zuschauer an den jeweiligen Ort. Aleppo ist komplett zerbombt, eine Geisterstadt. In der Ferne sieht der Zuschauer zwei Menschen, kleine Punkte, die auf einem Motorrad in seine Richtung die Straße entlangfahren. Sie kommen näher, brausen vorbei. Wer will, kann ihnen hinterherschauen.

Man kann sich nicht wegdrehen

Virtuelle Realität "ist die spannendste Technologie, die wir finden konnten", sagte Bryn Mooser von Ryot im Gespräch mit dem Guardian. Menschen können sich in die Lage anderer hineinversetzen, und tatsächlich wirken die Bilder eindrücklicher, wenn man sich nicht einfach wegdrehen kann. Leiden in 360 Grad. In Nepal kann man Helfer bei der Aufräumarbeit beobachten. Wie sie eine Tür öffnen wollen und dann wegrennen aus Angst, Teile des Gebäudes könnten einstürzen. (wie die Aleppo-Dokumentation gefilmt wurde, können Sie hier nachlesen).

Genau dieser Effekt ist es, auf den die Filmemacher abzielen: das Gefühl des Dabeiseins. Auch wenn der Zuschauer weiß, dass er streng genommen nicht dabei ist, ist er näher, dran das Gefühl intensiver. Statt eine Leinwand vor der Nase zu haben, ist er in eine Schein-Realität eingehüllt. Die dokumentarischen Projekte zeigen, welche Macht in VR-Brillen steckt.

René Pinnell hat das Festival organisiert. Zuvor hat er zehn Jahre lang als Filmemacher gearbeitet. Er habe die erste Version der Oculus-Rift benutzt und gesehen, was möglich sei. "Das war atemberaubend. Die Technik war unfassbar grobkörnig, aber ich wusste, dass ich mich ab sofort um Virtual Reality kümmern muss." Der Kinofilm sei mehr als 100 Jahre lang die dominante Kunstform gewesen. Pinell hofft, dass Virtual-Reality die nächsten Jahrzehnte dominieren wird.

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