Technologie:Diese Rätsel zeigen, dass wir die Welt nicht mehr verstehen

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Der technologische Fortschritt verläuft entlang streng rationaler Regeln (Nullen und Einsen), ist aber so unübersichtlich in seinen Querverbindungen und Abhängigkeiten, dass wir die Maschinen des 21. Jahrhunderts nicht mehr verstehen. (Foto: REUTERS)

In einem Haus in Atlanta werden zu Unrecht ständig gestohlene Handys geortet, auf einer Farm in Kansas Hacker und Spammer. Was dahintersteckt, ist unheimlich.

Von Johannes Kuhn, New Orleans

Zwei erstaunliche Geschichten machten in den vergangenen Monaten die Runde:

  • Christina Lee und Michael Saba aus Atlanta bekommen ständig Besuch von Menschen, die im Haus des Paares ihr gestohlenes Handy vermuten. Die Aufspür-Funktion der Smartphones zeigt die Adresse der beiden als aktuellen Standort an.
  • Joyce Taylor, die auf einer Farm in Kansas lebt, erhält dauernd wütende Anrufe und Besuch von der Polizei. IP-Adressen vieler Hacker, Spammer und sonstiger Internet-Ganoven führen zu ihrer Farm.

Viele rätselten über diese Geschichten, auf Reddit und HackerNews nehmen die Diskussionsstränge kein Ende. Die Vorstellung, spätabends die Tür zu öffnen und einen wildfremden Menschen "Hey, wo ist mein iPhone???" oder "Stell den verdammten Spambot ab!!!" brüllen zu hören, löst wohligen Grusel aus. Doch es geht noch um etwas anderes: Computertechnik sollte eigentlich nicht rätselhaft sein, sondern logisch. Wie die beiden Fälle zeigen, schafft sie aber neue Rätsel.

Computer und Internet-Technologie stehen dafür, dass Menschen mit Hilfe von Mathematik eine unbestechliche Logik entwickelt haben. Die Welt der Religion war eine des Glaubens, der anekdotischen "Beweise", der Überlieferung. Die Welt der Wissenschaft drängt das Unbekannte zurück. Und in digitaler Technologie erwarten wir überhaupt nichts Unbekanntes mehr. Wenn etwas nicht funktioniert, ist es schlicht ein Bug oder eine Fehlkonstruktion, kein Rätsel.

Ich habe kein Netz, um mobil online zu gehen? Das Signal ist zu schwach. Safari öffnet unter iOS 9 keine Links? Software-Fehler. Der Sensor meines Autos zeigt einen platten Reifen, obwohl alles in Ordnung ist? Muss ein Hardware-Problem sein. Anders als in Physik, Medizin oder Biologie erscheinen alle digitalen Regeln auserforscht. Alles ist erklärbar.

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Aber das ist nicht die ganze Wahrheit: Die vernetzte Welt mag auf magische Weise unkompliziert wirken, wenn wir nur ihr Abbild auf unserem Bildschirm betrachten. Doch unter dieser Oberfläche wirken unterschiedlichste (Computer-)Sprachen und Systeme aufeinander, deren Bestandteile wiederum andere Systeme sind, die in der Regel irgendjemand aus verschiedenen Systemen zusammengebaut hat. Unsere Technologie ist so komplex geworden, dass sie buchstäblich kein Mensch mehr verstehen kann. Wir brauchen inzwischen sogar Computer, um unsere Computer zu analysieren.

Der Informatiker Danny Hillis hat dafür einen Begriff gefunden: Das Zeitalter der Verstrickungen ( entanglement), eine Anspielung auf die Aufklärung ( enlightenment). In der Aufklärung entwickelte die Menschheit ein rationales System, Regeln aufzustellen und zu testen. Der technologische Fortschritt verläuft entlang streng rationaler Regeln (Nullen und Einsen), ist aber so unübersichtlich in seinen Querverbindungen und Abhängigkeiten, dass wir die Maschinen des 21. Jahrhunderts nicht mehr verstehen.

Wir können nicht wissen, wie ein Computer ein Klimamodell berechnet - völlig in Ordnung. Aber wir können auch nicht den errechneten Flugpreis (oder die Route) im Internet erklären. Oder nicht einmal beantworten, wie unser Computer die richtige Uhrzeit für sein System einstellt. Wie Menschen im Dschungel können wir gerade mal erahnen, was und vor allem warum etwas um uns herum geschieht - und hoffen, dass es funktioniert und nicht zu unserem Nachteil entworfen wurde.

Die Fälle in Atlanta und Kansas erinnern uns daran. Wir lachen etwas sorgenvoll, wenn Michael Saba erzählt, wie ein Polizist das Haus zur "Crime Scene" erklärte, weil er dort ein gestohlenes Telefon vermutete. Oder wenn Joyce Taylor daran erinnert, dass ihre Familie vor den Vorfällen eigentlich einen wunderbaren Ruf hatte und der Sheriff nun ein Schild vor der Farm angebracht habe, um verärgerte Spam-Opfer abzuhalten. Doch selten denken wir darüber nach, ob es jemanden gibt, der komplexe Systeme wie Flugsicherung, Bots, die mit Aktien handeln, oder die unterschiedlichen Ebenen der Sicherheitsarchitektur eines Cloud-Anbieters noch komplett verstehen kann. Wir ahnen: Die Verschachtelung von Systemen ist uns längst über den Kopf gewachsen.

Was hinter den Rätseln steckt

Wir sind erleichtert, dass im Fall der verdächtigen IP-Adressen in Kansas (Achtung, Spoiler!) ein unglücklicher Zufall schuld ist: Genauer gesagt die Firma MaxMind, über die Geschäftskunden abfragen können, welche physische Adresse hinter einer IP-Adresse steckt. Wenn eine amerikanische IP-Adresse nicht genau feststellbar ist, gibt MaxMind das geografische Zentrum der USA an. Nach Rundung der Koordinaten ist das genau jene Farm, auf der Joyce Taylor lebt. Ein Bug, der durch ein Update der Datenbank behoben werden konnte.

Ähnlich, aber komplexer ist die Aufklärung des Falles der angeblich gestohlenen Handys in Atlanta (Spoiler II!): Das Haus des betroffenen Paares liegt in einer Gegend, das für die Nachverfolgung von IP-Adressen als Zentrum von "Südwest-Atlanta" gilt. Die beiden leben in einem der wenigen Haushalte der Nachbarschaft mit Wifi-Signal: Deshalb identifizieren viele Geodienste ihr Wlan als jene IP-Adresse, hinter der sich ein - irgendwo in der Gegend befindliches - gestohlenes iPhone befindet (was tatsächlich Mutmaßungen über in der Nähe lebende Serien-Diebe nahelegt).

Die Fehl-Ortung entsteht durch ein Zusammenspiel der Systeme, das so komplex ist, dass es niemanden gibt, der den Fehler beheben könnte. Ein Problem, dem wir im 21. Jahrhundert häufiger begegnen werden.

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