Technik:Wenn der Zufall das Leben regiert

Smartphone

Die Sortier- und Empfehlungsalgorithmen der Tech-Branche regeln das Leben von Milliarden Menschen.

(Foto: Gilles Lambert/Unsplash)
  • Der ehemalige Google-Entwickler Max Hawkins wehrt sich dagegen, dass die Sortier- und Empfehlungsalgorithmen der Tech-Branche über sein Leben bestimmen.
  • Er hat eine App entwickelt, die für ihn Alltagsentscheidungen trifft und ihn immer wieder in neue, unvorhergesehene Situationen bringt.
  • Mittlerweile spielt der Zufall eine große Rolle in seinem Leben.

Von Michael Moorstedt

Weil man sich im Internet ja nicht zu schade ist, jedes auch noch so obskure Jubiläum zu feiern, darf an dieser Stelle erinnert werden, dass am vergangenen Mittwoch vor zehn Jahren Apples App-Store online ging. Der Wille zur Nostalgie ist groß im Netz, und so wurde allenthalben an die gute alte Zeit zurückgedacht. An den "wilden Westen" der App-Economy, an "Goldrauschstimmung" und an beinahe unbegrenzte Möglichkeiten.

Wenn man sich von all den großen Gefühlen erst einmal erholt hat, ist es aber durchaus interessant zu sehen, welche Art von Programmen damals und welche heute an oberster Stelle der Download-Listen stehen. Zum Start waren vor allem allerhand seichte Spiele populär, aber auch Programme, die den Telefonbildschirm in einen halb leeren Bierkrug oder ein Goldfischglas verwandelten. Die meisten von ihnen sind mittlerweile längst nicht mehr nutzbar, sie bestehen aus einsam zurückgelassenen, sinnlosen Codes.

Heute dominieren naturgemäß die Mobil-Apps der großen sozialen Netzwerke die Charts, dazu auch noch Uber, Netflix und Spotify. Alles also Programme, die mehr oder weniger unser Leben regeln. Sie formen, wie wir reden, was wir sehen, woran wir uns erinnern und in wen wir uns verlieben. Von simplen Spaß- und Kommunikationswerkzeugen sind die Telefone längst zum Grundstein unseres Daseins geworden.

"Geh in den Park und schnuppere an einer Blume!"

Dass dadurch der Zufall in einer immer deterministischeren Welt abhandenkommt, ist ein älterer Vorwurf an all die Sortier- und Empfehlungsalgorithmen der Tech-Branche. Das dachte sich auch Max Hawkins, als er vor einiger Zeit seinen Job als Softwareentwickler bei Google kündigte und versuchte, aus der von den Apps verordneten Alltagsroutine auszubrechen.

Zunächst ließ er sich von seinem Zufallsgenerator nur auf diverse Veranstaltungen schicken, die das Programm willkürlich auf Facebook auswählte. Dann stieg er in Taxis, deren Ziel er nicht kannte. Schließlich wurden ganze Urlaube nach dem Prinzip der Unvorhersehbarkeit gebucht. "Randomized Living" nennt Hawkins seine Antwort auf die durchökonomisierte Welt des ehemaligen Arbeitgebers.

Inzwischen hat er eine Facebook-Gruppe erstellt, die auch für andere Nutzer Events zufällig bestimmt. Mit der Zeit spielte der Zufall eine immer größere Rolle in seinem Leben. Jeden Tag lässt er sich nun Kurzbefehle aus dem Rechner geben. Die Vorlagen bezieht das Programm aus einer Menge von Büchern, die es durcharbeitet. Die Handlungen der Hauptpersonen spielt es dann an Hawkins aus. Das reicht von "Geh in den Park und schnuppere an einer Blume!" bis hin zu eher elementareren Erfahrungen wie "Erlege ein Reh!".

Ein Programm bestimmt, welches Tattoo sich Hawkins stechen lässt

Hawkins Zufallsgeneratoren sind freilich eher digitale Aktionskunst und Mächtigenkritik als tatsächlich für den Endnutzer gedacht. Mittlerweile hat er sogar ein Miniprogramm entwickelt, das durch eine Google-Suche nach Strichzeichnungen für ihn bestimmt, welches Tattoomotiv er sich an welcher Stelle seines Körpers stechen lassen wird.

Des Widerspruchs, sich ausgerechnet von einer Software leiten zu lassen, um sich dadurch unabhängiger von anderen digitalen Helfern zu machen, ist sich Hawkins übrigens durchaus bewusst. Hier wie dort kommt die Handlungsempfehlung schließlich aus dem Computer. Der Unterschied ist aber, dass seine Programme ihn zwingen, sich auf etwas Neues einzulassen, anstatt sich nur immer wieder auf die Erfahrungswerte der Vergangenheit zu beziehen.

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