Streaming:Erst der Porno, dann der Mainstream

Streaming: Mona Lisa lächelt nicht mehr nur an einem Ort. Ihr Lächeln ist anklickbar.

Mona Lisa lächelt nicht mehr nur an einem Ort. Ihr Lächeln ist anklickbar.

(Foto: Stefan Dimitrov/SZ)

Was mit Pornos anfing, ist längst in der Masse angekommen. Statt Dinge zu besitzen, wird über den Stream konsumiert. Klassische Formate müssen auf Angebote wie Netflix und Spotify reagieren.

Von Johannes Boie und Lothar Müller

Es war eine faszinierende und zugleich schockierende Erfahrung für die Zeitgenossen, als sich vor über hundert Jahren die Stimmen von den Körpern der Sänger zu lösen begannen. Aus einem fernen Konzertraum erklang plötzlich das Timbre von Enrico Caruso (hier eine Video davon auf Youtube), vom Rauschen umtönt, und als der berühmte Tenor starb, hörte seine Stimme nicht auf zu singen. Und schnell wurde der Chor der Totenstimmen größer. In der Grammofon-Szene in Thomas Manns "Zauberberg" ist das Faszinosum wie das beunruhigend Schattenhafte dieses Zugleich von Anwesenheit und Abwesenheit festgehalten.

Als im späten zwanzigsten Jahrhundert die CD als Speichermedium für Musik der Schallplatte an die Seite trat, erschien sie als revolutionäre Neuerung, die dem alten Medium den Garaus macht. Jetzt tritt das Gemeinsame an den beiden Speichermedien hervor: Beide sind nicht nur Tonträger, sondern Dinge, dreidimensionale Objekte, die in Läden liegen, gekauft werden und als physische Objekte in die öffentlichen und Privaträume des Hörens eingehen.

Aus fester Form wird ein Datenstrom

Denn nun lösen sich, im Zuge der Digitalisierung aller Medien der Datenspeicherung und -zirkulation, die längst schon aufgenommenen wie die gerade erst debütierenden Stimmen von den Tonträgern in dinglicher Gestalt. Mehr und mehr erhalten wir Zugriff auf kulturelle Produkte, ohne dass die Datenträger der Töne und Bilder dabei noch eine eigene physische Gestalt annehmen. Was in fester Form existierte, anfassbar, wird zum Objekt des nur noch digitalen Zugriffs. Über Leitungen strömen die Töne und Bilder in unsere Wohnungen, auf unsere Geräte wie Tablet-Computer und Handys.

Im Englischen - und immer häufiger auch im Deutschen - heißt dieser Vorgang "Streaming", die Firmen, die den Zugriff auf ihre Datensätze anbieten, werden als "Streamingdienste" bezeichnet. Das englische Wort für strömen, fließen bezeichnet im Detail den Vorgang der Übertragung des Produktes vom Großrechner des Anbieters auf den kleinen Computer, Fernseher oder Tablet des Nutzers.

Die Film-, Fernseh- und Musikbranche, inzwischen auch die Verlage für Bücher und die Verlage für Periodika wie Magazine und Zeitungen müssen mehr und mehr auf die Verbreitung von Streaming-Angeboten reagieren. Vor allem für Kinofilme, Fernsehformate und Produkte der Musikindustrie haben sich international agierende Großunternehmen herausgebildet, die wachsenden Druck auf ihre technologischen medialen Vorläufer ausüben. Zu diesen Großakteuren gehören Musikanbieter wie Apples iTunes oder Spotify und Netflix, das im September als Portal für Serien und Kinofilme auch nach Deutschland kommen wird. Durch diesen Aufschwung der digitalen Distribution geraten CD-Läden wie Videotheken in die Risikozone des Verschwindens.

Zuerst kam die Porno-Industrie

Der Take-off dieses Aufschwungs blieb zunächst weitgehend unbeachtet. Denn die erste Industrie, die von ihm erfasst wurde, war die Porno-Industrie. Im Blick auf sie werden traditionell die moralischen Standards der Gesellschaft erörtert, weniger die technologischen. Sie war aber immer schon ein Zentrum technologischer Innovation und unternehmerischer Erprobung neuer Geschäftsmodelle.

Aus der Pornobranche ging nicht nur die BlueRay-Disc hervor, hier lancierte der deutsche Programmierer Fabian Thylmann das Unternehmen Manwin, in einem branchentypischen Modell mit vielen verschachtelten Subunternehmen. Als einer der ersten Anbieter streamte er seine Filmangebote. Seiner Firma gehören heute fast alle populären Sexportale im Netz. Weil er dabei auf Gratis-Inhalte setzte, wuchs sein Unternehmen schnell, seinen finanziellen Profit erwirtschaftete er über die Werbeeinnahmen. Manwin dominiert heute die Wertschöpfungskette, vom schmuddeligen Casting im San Fernando-Valley bis zum digitalen Vertrieb rund um die Welt.

Die Datenströme stoßen nicht nur in der Porno-Branche auf juristische Hindernisse. In dem Moment, in dem der Kunde bei einem Video, das er zum Beispiel über das Abspielprogramm iTunes beim digitalen Anbieter demselben Namen erworben hat, auf den Play-Knopf drückt, beginnt das Streaming. Das hat jeder schon mal gesehen, es reicht aus, ein Youtube-Video angeschaut zu haben. Während am unteren Bildrand die Anzeige, die markiert, wie weit ein Video oder ein Lied bereits abgespielt wurde, läuft, lädt sich oft noch ein weiterer Balken von links nach rechts auf.

Kopiert wird trotzdem

Dieser zeigt an, wie viel von dem ladenden Video tatsächlich schon auf dem Rechner des Zuschauers gelandet ist. Damit die Anzeige ruckelfrei erfolgt, darf das Video nie schneller abgespielt werden, als der Ladevorgang benötigt. Das Laden nennt man auch "Zwischenspeichern", und exakt hier beginnt die Frage, die heute Juristen und Techniker gleichermaßen beschäftigt.

Zwischenspeichern, ohne das die Distribution per Streaming nicht funktioniert, ist nämlich ein Kopiervorgang. Tatsächlich entsteht eine Kopie des Films oder Songs auf dem Abspielgerät des Nutzers. Urheberrechtler argumentieren deshalb im Falle von illegalen Streams gerne, dass eine illegale Kopie erstellt worden sei, ein Vorwurf, der vor Gericht deutlich schwerer wiegt als nur illegaler Konsum. Tatsächlich aber wird eine dergestalt gestreamte Filmdatei jedoch in aller Regel nach dem Anschauen automatisch wieder gelöscht.

Bei den legalen Portalen - und sie sind es, die das Streaming jetzt zu einer akzeptierten neuen kulturellen Praxis machen - liegt es am Anbieter, ob eine Film-, Text- oder Tondatei dauerhaft im Besitz des Konsumenten bleibt. Streaming mit flüchtiger Speicherung, geliehene Dateien, die sich nach 30 Tagen selbst löschen und somit die Videotheken von früher simulieren, oder auch dauerhaft gekaufte Inhalte, wie einst eine im CD-Geschäft erworbene Platte - mit solchen Formaten hat die Streaming-Industrie begonnen, ihre Geschäftsmodelle zu verfeinern.

Das Geschäftsmodell Streaming

Zu diesem Geschäftsmodell gehört, dass beim Streaming die Breite des Datenstroms zählt, der sich in die Vielzahl der Nutzer-Tablets, PCs oder Smartphones verzweigt. Der Erlös eines Einzel-Streams, der an den Urheber zurückfließt, ist gering. Für die meisten Musiker stellt der Niedergang der CD, der um 2000 begann, und der Übergang zum Streamen daher zunächst einen ökonomischen Verlust dar. Wie viel Geld genau ein Pop-Künstler tatsächlich für einen Stream überwiesen bekommt, ist schwer zu sagen. Nicht zuletzt, weil die Labels nicht mit allen Diensten dieselben Verträge abschließen. Grundsätzlich dürfte aber die Faustregel gelten: Je berühmter ein Musiker ist, desto bessere Tarife sind möglich. Im Schnitt ist ein Musikstream derzeit wohl zwischen 0,4 und 0,9 Cent wert. Eine Million Streams eines Songs bedeuten also gerade einmal einen Erlös von 4000 bis 9000 Euro.

Ein Effekt des Rückgangs der Erlöse aus dem Verkauf gespeicherter Musik ist die Aufwertung des Live-Konzerts als Einnahmequelle, die das Musikgeschäft seit einigen Jahren prägt. Dieser Vorgang ist ein gutes Beispiel für die aktuelle Verflechtung von alten, manchmal sehr alten und neuen Medien, in denen Töne, Bilder, Buchstaben zirkulieren. Das Streaming erfasst mit den Archiven und Backlists Altbestände der kulturellen Überlieferung, tritt also den Medien der fortwährenden Aktualisierung der Tradition an die Seite. Es kann den Erfolg eines gerade entstandenen Songs mitbestimmen, und es kann einer der Gründe sein, aus denen ein Musikliebhaber sich eine Konzertkarte kauft.

In den Medientheorien des zwanzigsten Jahrhunderts war die Konkurrenz zwischen den neuen Medien und den alten Künsten ein Schlüsselmotiv. Vielen erschein das Kino als Rivale des Theaters, das Radio als Widersacher der Zeitung, die es an Aktualität überholt, manchem die Reproduktionstechnologien insgesamt als Anschlag auf die Autorität und Aura der Originale. Es schien, als lägen sich die Medien und die Technologien, auf die sie sich stützen, dauernd in den Haaren, als würden sie einander vor allem das Leben schwer und am liebsten den Garaus machen. Hat nicht die CD der Langspielplatte das Wasser abgegraben, wie jetzt der Livestream die CD in die Krise bringt? Und war nicht der Sampler auf Kassette, das verschwundene Mixtape nur der unbeholfenen Vorläufer der neuen digitalen Kultur, in der alles mit allem kombiniert und verkauft werden kann?

Kein Ersatz, eine Auffächerung

Das schon, aber dennoch ist die Geschichte der Speicher- und Zirkulationsmedien nicht nur eine Geschichte der Substitution, der Ersetzung alter durch neue Medien. Oft ersetzen die neuen Formate des Musikhörens und Filmanschauens die Ursprungsformate nicht, sondern treten ihnen an die Seite. Darum ist sie zugleich eine Geschichte der Auffächerung der alten Figuren des Hörers, Lesers, Betrachters in eine Fülle von Figuren, die oft parallel in ein- und demselben Individuum existieren: Der Konzertgeher und der CD-Hörer. Der E-Book- und der Hardcover-Leser. Der Kinogänger, der manche seiner Abende mit dem Anschauen amerikanischer TV-Serien vor dem Computer verbringt.

Eine Erkenntnis der Medientheorien des 20. Jahrhunderts ist für das Verständnis unserer Umbruchsituation, in der sich eine Vielzahl von alten und neuen Formaten der Aneignung und des Genusses kultureller Hervorbringungen überlagern, ist überaus aktuell geblieben: die Formel "the medium is the message", die der Kanadier Herbert Marshall McLuhan in die Welt gesetzt und zu seinem Markenzeichen gemacht hat.

Aus dieser viel bemühten Formel folgt, dass ein kulturelles Produkt von den Formaten und Kanälen, über die es verbreitet wird und in denen es dem Publikum gegenübertritt, zumindest nicht unberührt bleibt. Es ist nicht derselbe Film, den wir auf großer Leinwand im Kino oder im Tablet-Format betrachten, und aus der Differenz entstehen zwei unterschiedliche Arten von kultureller Praxis. Der Livestream, bei dem Geschehnisse in Echtzeit auf die Rechner der Zuschauer übertragen werden, ähnelt, weil er an die Gegenwart gebunden ist, Anfang und Ende hat, dem Konzert. Aber er ist ein eigenständiges Medium, mit einem eigenen Publikum.

Die abgeschlossene Form des Musikalbums, die zeitlichen Beschränkungen der TV-Sendung, die örtliche Eingrenzung des Kinoabends und Konzerts - es scheint auf den ersten Blick, als würden alle diese kulturellen Formate derzeit unwiderruflich entgrenzt, als sei das Zeitalter der unendlichen Kombination und ungehemmten Verfügung über alle Kulturprodukte angebrochen. Aber ob die alten Formate sich in den neuen Datenflüssen schon aufgelöst haben, ist fraglich, und die Frage lässt sich nicht aus der Vogelperspektive beantworten. Sie verlangt Innenansichten aus der kulturellen Praxis der Kinogänger und TV-Serien-Fans, der Leser von Romanen und der Käufer von Magazinen und Zeitschriften, der Konzertgänger und Musikhörer, der Kunstliebhaber, die vor Ausstellungen Schlange stehen und der Kunstliebhaber, die immer wieder in dasselbe Museum zurückkehren, einiger weniger Bilder wegen.

Dieser Bestandsaufnahme der kulturellen Praxis im Zeitalter des "Streaming", das alle ihre Sphären erfasst, dienen die Skizzen, die rechts versammelt sind.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: