Soziologie:"Wir müssen aufhören, das Leben als App zu betrachten"

Sherry Turkle

Sherry Turkle: "kein Smartphone in der Küche, im Esszimmer und im Auto"

(Foto: Peter Urban, oH)

Facebook-Entzug und Smartphone-Verbot in der Kantine: Die US-Soziologin Sherry Turkle plädiert für mehr Langeweile - und echte Gespräche.

Interview von Alexandra Borchardt

SZ: Frau Turkle, Sie sagen, der ständige Blick auf Facebook oder in andere soziale Netzwerke macht uns in Wahrheit asozial, wir müssten wieder mehr miteinander reden. Wie gehen Sie persönlich mit Ihrem Smartphone um?

Sherry Turkle: Meine Regel ist: kein Smartphone in der Küche, im Esszimmer und im Auto. Ich plädiere für solche smartphonefreien Zonen, "heilige Orte" nenne ich das. Das ist einfacher, als zum Beispiel Sperrzeiten durchzusetzen.

Aber manchmal kommen Eltern einfach nicht gegen die Smartphone-Begeisterung ihrer Kinder an.

In Wahrheit sind die Eltern ein großer Teil des Problems. Manche sind so hin und weg von ihren Smartphones, dass sie keine Gespräche mehr zulassen. Ich sitze mit Familien am Esstisch, und es sind die Mütter, die das Telefon herausholen.

Das ist der Versuch, Beruf und Familie gleichzeitig managen zu wollen ...

Ja. Mütter schieben Kinderwägen, und statt mit dem Baby zu reden, fummeln sie an ihrem Telefon rum. Das Kind schießt beim Fußball ein Tor, und der Vater verpasst das, weil er mit seinem Handy beschäftigt ist. Ein Kind hat sich bei mir darüber beschwert, dass die Mutter vorzeitig vom Urlaubsort abreisen wollte, weil die Wlan-Verbindung so schlecht war.

Was hat das für Folgen?

Es ist eine Schlüsselerfahrung für Kinder, die volle Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu bekommen. Ich beobachte, dass die Generation der heute 13- bis 16-Jährigen jetzt schon sagt, wenn ich eine Familie habe, werde ich meine Kinder nicht so erziehen, wie meine Eltern es tun, sondern wie sie denken, es zu tun: mit Gesprächen. Ich werde mit meinen Kindern Spazierengehen.

Zur Person

Sherry Turkle lehrt am MIT in Boston. Bekannt wurde sie 2011 durch ihr Buch "Alone Together" ("Verloren unter 100 Freunden: Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern). 2015 erschien "Reclaiming Conversation: The Power of Talk in a Digital Age".

Aber früher wurden Kinder doch auch eher nebenbei groß.

Ja, wenn Ihre Mutter früher beim Abwaschen war, hatten Sie auch nicht ihre volle Aufmerksamkeit, aber Sie wussten, Sie würden sie jederzeit bekommen, wenn es nötig war. Kinder spüren, dass das Smartphone mit seinen ständig einlaufenden Nachrichten eine Macht über Menschen hat, mit der sie es nicht aufnehmen können. Es gibt dieses "unbeteiligte Mutter- oder Vater-Gesicht". Wenn Kinder das sehen, werden sie erst unruhig und laut, dann irgendwann depressiv.

Was raten Sie Eltern?

Verbringen Sie lieber weniger Zeit mit Ihrem Kind, aber lassen Sie das Telefon daheim, wenn Sie zum Beispiel auf den Spielplatz gehen. Gehen Sie lieber nur 40 Minuten ohne Telefon auf den Spielplatz als drei Stunden mit. Nehmen Sie Kinder mit auf Spaziergänge in die Natur, wo Sie auch mal gemeinsam schweigen. Und setzen Sie Ihre Babys nicht in diese Wippen, die eine Halterung für iPads haben. Wenn Sie ihr Kleinkind vor einen Bildschirm packen, statt es ihm zu ermöglichen, in den Himmel, die Welt, zu Ihnen zu schauen, kann es keine Vorstellungskraft entwickeln. Kinder brauchen Augenkontakt und müssen Ihre Stimme hören. Und sie müssen lernen, Stille und Langeweile auszuhalten.

"Viele Menschen haben Angst davor, mit ihren Gedanken alleine zu sein"

Was bitte ist so erstrebenswert an Langeweile?

Die Fähigkeit, mit sich alleine zu sein und sich dabei gut zu fühlen, ist das Fundament, auf dem Beziehungen entstehen können. Wenn du dich selbst verachtest, kannst du nicht zu jemand anderem gehen und ihm zuhören. Du projizierst alle Bedürfnisse auf diesen anderen Menschen. Wenn wir Menschen treffen, die mit sich selbst nicht klarkommen, und sich deshalb an uns klammern, ist das sehr unangenehm. Denn wir spüren, dass es denen gar nicht um uns geht sondern darum, eine Lücke in ihrem eigenen Leben zu schließen.

Aber Einsamkeit kann sich grausam anfühlen.

Ich versuche nicht, das Unglücklichsein zu verherrlichen. Ich bin selbst nicht der glücklichste Mensch auf dieser Welt. Ich rede nicht über Einsamkeits-Ekstase, ich rede darüber, dass man keine Panik empfinden sollte, wenn man nicht ständig stimuliert wird.

Aber zum Beispiel auf Facebook zu gehen ist doch auch nichts anderes als Zappen im Fernsehen: Man wird nicht unbedingt stimuliert, kann sich aber mal eine Pause verschaffen.

Wenn man es gut aushält, mit sich alleine zu sein, dann kann man auch ruhig auf Facebook gehen und schauen, was dort so los ist. Ich bin auch auf Facebook. Ich mag die sozialen Netzwerke wirklich. Ich bin nicht anti Technologie, ich bin pro Gespräch.

Was spricht also gegen ein bisschen Ablenkung?

Es gibt diese Studie: College Studenten wurden gebeten, ohne Geräte alleine zu sein. Ihnen wurde gesagt, wenn sie es nicht aushielten, könnten sie sich Elektroschocks verabreichen. Die haben erst gesagt: "Was für ein Unsinn ist das denn?" Aber siehe da: Schon nach ungefähr sechs Minuten haben sie angefangen, mit den Elektroschocks zu experimentieren. Das zeigt, dass viele Menschen Angst davor haben, mit ihren Gedanken alleine zu sein.

Aber über Facebook kommuniziert man doch auch, man verbindet sich mit Leuten, tauscht Ideen aus, die einem wichtig sind.

Die Menschen sind so hektisch dabei, sich mit vielen zu verbinden, dass sie darüber verlernen, sich miteinander zu unterhalten. Das Besondere an einer Unterhaltung ist: Sie findet in Echtzeit statt und man kann nicht genau steuern, was passiert.

Was ist daran wichtig?

Als Psychologin weiß ich, dass Gespräche der Schlüssel zur Empathie sind - nicht nur zwischen Eltern und Kindern, sondern auch im Arbeitsumfeld, in der Liebe. Es schockiert mich, wie stark Menschen bereit sind, ein persönliches Gespräch durch online "Gespräche" zu ersetzen, die oft sogar Priorität haben. Laut einer Umfrage haben 89 Prozent der Amerikaner während ihrer jüngsten Unterhaltung ein Smartphone ausgepackt.

Das ist tatsächlich eine dumme Angewohnheit.

Mit schlimmen Folgen. In den zurückliegenden 20 Jahren ist die Empathiefähigkeit von Studenten um 40 Prozent gesunken. Ich bin überzeugt davon, dass wir in fünf bis sieben Jahren einen unglaublichen Anstieg bei Autismus beobachten werden. Man kann natürlich einem autistischen Kind nicht das Telefon wegnehmen und es damit heilen. Aber man kann durch sein Verhalten die Symptome von Autismus hervorrufen.

Vor 20 Jahren gab es doch noch gar keine Smartphones, das iPhone kam 2007.

Aber seitdem gibt es Mail. Schon bei den Recherchen zu meinem Buch "Alone Together", das 2011 erschienen ist, sagten mir viele Leute, sie schrieben lieber eine Text-Nachricht, als ein Gespräch zu führen. Dieses Verlangen, sich zu perfektionieren, den Text zu überarbeiten und erst dann abzuschicken statt einfach darauf los zu reden, das war verbreitet. So wie man sich auch auf Facebook so darstellt, wie man gerne sein möchte, anstatt sich so zu präsentieren, wie man ist und das auch zu akzeptieren.

"Wir haben diese seltsame Vorstellung, dass wir perfekt sein können"

Sie haben kürzlich bei einem Vortrag erzählt, Studenten kämen nicht mehr zu Ihnen in die Sprechstunde. Sie schrieben stattdessen lieber eine Mail und erwarteten auch eine als Antwort. Auch das erklären Sie mit dem wachsenden Hang zur Perfektion.

Ja. In Amerika sind Kinder eine Investition. Es ist ein Familienprojekt, perfekte Kinder zu produzieren. Der Druck ist groß, einen Lebenslauf zu basteln, mit dem es die Kinder in ein Top-College schaffen, da wird der beste Nachhilfelehrer gesucht, das beste Sommerprogramm. Und es besteht immer die Gefahr, dass die Kinder irgendetwas sagen, was ihre Laufbahn ruinieren könnte. Also haben sie Angst vor Spontaneität. Deshalb betrachten es die Studenten als eine Art Transaktion, wenn sie mit mir zu tun haben, nicht als eine Beziehung.

Erklären Sie doch bitte den Unterschied?

Beim Abendessen in der Familie zum Beispiel, wenn es drunter und drüber geht, bekommen die Kinder ein Gefühl dafür, was es heißt, dass man sich auf sie einlässt, sie akzeptiert, ihnen folgt. Nicht weil sie perfekt sind oder brillant oder immer richtig. Bei so einem Gespräch am Tisch verstärkt man die Fähigkeit, zuzuhören, man entwickelt Mitgefühl. Auch im Klassenraum oder im Seminarraum verstärkt man durch Gespräche das Zuhören, Leidenschaft, sich um andere zu kümmern. Die Studenten dürfen mit halbgaren Ideen kommen. Wir haben diese seltsame Vorstellung, dass wir perfekt sein können, nur weil wir auf Google die richtige Information finden.

Ist die Angst vor Fehlern ein genereller Trend?

Familien streiten sich deshalb sogar online. Eine Mutter sagte mir, dass ihr das gefalle. Sie werde nicht unterbrochen, sie könne ihr ganzes Argument darlegen, und das Kind sagt das auch. Aber was man in einem Familienstreit rüberbringen will, ist doch in Wahrheit: Du kannst alles zu mir sagen, ich halte das aus und lasse dich nicht im Stich, solange du mich respektierst. Man muss aufhören, das Leben wie eine App zu betrachten, also etwas, das perfekt sein oder zumindest ständig perfektioniert werden muss. Sie führen ja auch kein Interview mit mir, um mich perfekt zu erleben. Wenn Sie perfekt wollen, lesen Sie mein Buch. Sie wollen mich denken sehen in aller Unvollkommenheit.

Aber manchmal ist es doch gut, wenn man Emotionen herausnimmt. Gerade zum Beispiel im Büro.

Auch im Büro sollte man heilige Plätze oder Situationen schaffen, die für Gespräche reserviert sind. Das ist gar nicht einfach. Ich habe eine Fallstudie in einer Firma gemacht, die eine Gesprächskultur schaffen wollte - theoretisch. Die haben sich überlegt, wie lang die Schlange in der Kantine und wie groß die Tische sein sollten, um Gespräche optimal zu fördern.

So etwas kann man also durch Architektur erreichen?

Tja, das Problem war nur: Es gab keine Gespräche. Und ich habe den Grund dafür herausgefunden. Die Firma hat verlangt, dass alle ständig per Mail erreichbar sind. So hat man dort Engagement bewiesen. Man kann sich sonst wie viel Mühe mit der Architektur geben; wenn alle ständig an der Mail hängen, werden sie sich nicht miteinander unterhalten. Einer der Hauptgründe, warum Menschen ständig an ihren Smartphones sind, ist, dass sie das Gefühl haben, ihre Arbeitgeber verlangen das.

Also Smartphone-Verbot in der Kantine?

Ich habe eine Studie gemacht, bei der herauskam: Wenn Sie ihr Telefon neben sich auf den Tisch legen, wird es Sie ablenken, selbst wenn es ausgeschaltet ist. Wir würden nur über Dinge reden, bei denen uns Unterbrechungen nichts ausmachen, also bestimmt nicht über wichtige Themen des Lebens. Dieses Ergebnis hat mich wirklich umgehauen. Ich habe mein Verhalten sofort geändert. Mein Telefon ist jetzt zum Beispiel da drüben in meiner Handtasche.

Meins muss leider gerade als Aufnahmegerät für unser Interview herhalten. Das ist ja das Ding mit den vielen Funktionen: Wenn man das Telefon rausholt, um ein Foto zu machen, kann man auch gleich kurz die Mails checken.

Genau. Wenn man also etwas ändern will, muss es heißen: keine Telefone auf dem Tisch. Außerdem sollten Unternehmen ihren jungen Mitarbeitern beibringen, sich zu unterhalten. Wenn jemand sagt, darüber haben wir schon geredet, müssen Führungskräfte nachfragen: Hast du mit deiner Stimme geredet? Firmen müssen sehr deutliche Regeln zum E-Mail-Gebrauch verabschieden. Wenn Mitarbeiter das Gefühl haben, sie werden danach beurteilt, wie schnell sie sich elektronisch zurückmelden, können Sie alles vergessen.

Glauben Sie im Ernst, dass sich der Trend zur elektronischen Kommunikation umkehren lässt?

Ich glaube an eine neue Konsumenten-Bewegung. Das ist wie beim Thema Klimawandel: Wir haben eine sehr bedrohliche Situation, und entweder man sagt dann, man findet das okay, oder man kämpft dagegen an. Ein Erfolgsbeispiel wäre die Ernährung. Ich bin in der Nachkriegszeit aufgewachsen, in der man an industrielle Ernährung glaubte. Meine Mutter hat mich mit Weißbrot und Dosengemüse ernährt. Das hatte nichts mit Geld zu tun, man wusste es nicht besser. Wenn ich meine Tochter, die heute 24 Jahre alt ist, so ernährt hätte, hätte man mir Missbrauch vorgeworfen. Die Erkenntnisse dazu kamen aus der Verbraucherschutzbewegung. Es gab viel Widerstand, aber heute ernähren sich die meisten Amerikaner besser, zumindest jene in der Mittelschicht.

Sie vergleichen den Schutz vor ständigem Smartphone-Gebrauch mit dem Schutz vor Schadstoffen oder sogar Drogen?

Smartphones sind nicht wie Heroin, auch wenn sie Suchtpotenzial haben - diese Serotonin-Ausschüttungen, wenn man eine neue Nachricht bekommt, die erlebe ich selbst. Aber man kann das durchaus trainieren: eine Stunde lang miteinander von Angesicht zu Angesicht reden, ohne sich von seinem Telefon ablenken zu lassen. Wir können das noch drehen. Es kommt darauf an, ob wir es zu einer Priorität machen.

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