Republica in Berlin:Appelle ins Leere

Re:publica 2015

Wo bleibt der Protest? Auf der Republica suchen die Teilnehmer nach Antworten.

(Foto: dpa)
  • Spionage, Privatsphäre, Cyberkriminalität: Auf dem Programm der Republica stehen drängende Probleme.
  • Zuletzt ist der Protest von Internetaktivisten verblasst. Ein Grund dafür ist die Überwachung im Netz.
  • Auf der Internetkonferenz erörtern Experten, wie sich Menschen für sozialen Protest mobilisieren lassen.

Von Bastian Brinkmann, Lutz Knappmann und Hakan Tanriverdi

Das Timing könnte kaum besser sein: Die Überwachungs-Affäre um BND und NSA eskaliert in ungeahnte Dimensionen. Die Vorratsdatenspeicherung steht vor dem Comeback. Spektakuläre Cyberattacken sorgen regelmäßig für Schlagzeilen. Und in Berlin findet die Republica statt, das jährliche Epizentrum der Netzversteher.

Zur Republica versammeln sich rund 6000 Menschen die im und mit dem Internet arbeiten, die sich Gedanken über das Netz machen - und Sorgen. Zuletzt ziemlich viele Sorgen. Die Republica bildet eine mächtige Stimme für ein freies Internet und den Schutz der Privatsphäre. Bloß: Wirklich?! Eindrücke, wie die Teilnehmer über Privatsphäre und Überwachung diskutieren.

... Wir waren naiv

Es ist ein Satz, mit dem Ethan Zuckerman, Direktor des Center for Civic Media am MIT, das böse Erwachen zusammenfasst: Das Internet kann nicht zensiert und überwacht werden, habe man früher gedacht, nur: "We believed a lot of really dumb shit." Die Netzgemeinde habe einfach nicht geglaubt, dass die Ein- und Übergriffe im Internet so weit gehen könnten, wie wir es heute wissen - oder vielleicht auch immer noch nicht wissen.

... Immerhin: wir reden!

Seien wir ehrlich, es hat sich ja nicht viel geändert, seit Edward Snowden unzählige Details über die Überwachungsprogramme des US-Geheimdienstes NSA und seiner Verbündeten enthüllt hat. Trotz aller Debatten. Die Bilanz, die Marcus Beckedahl, Gründer von netzpolitik.org und Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie an der FU Berlin, ziehen, ist ziemlich ernüchternd. Die Praktiken der Geheimdienste sind unverändert. Die Vorratsdatenspeicherung steht vor dem Comeback, das antiquierte Urheberrecht ist nach wie vor: antiquiert. Der Breitbandausbau kommt nicht voran.

Wichtig, aber leider sperrig

Die beiden Aktivisten bemühen sich, dem doch noch etwas Positives abzugewinnen. Und sie finden es in dieser Beobachtung: "Es gibt mehr Bewusstsein dafür, dass es Sinn hat, Mails zu verschlüsseln", sagt Beckedahl. "Die Nutzung von Anonymisierungs-Tools wie Tor nimmt zu. Wir sehen wachsenden Zulauf zu Freifunk-Communitys, die vor Ort unabhängige Netz-Infrastrukturen schaffen." "Und", so argumentiert Beckedahl mit Blick auf NSA, BND und Co., "wir haben endlich eine notwenige und richtige Debatte darüber: Wer wusste was, wer hat wie mitgemacht und mit wem zusammengearbeitet."

... Warum die Debatte uns alle betrifft

Die Zeiten sind vorbei, in der Privatsphäre und Cyber-Sicherheit ein Thema für Eingeweihte waren. Das Netz ist Alltag. "Die Netzgemeinde gibt es nicht mehr. Denn", so argumentiert Beckedahl, "die gesamte Gesellschaft ist jetzt digital."

... Wie die Appelle ins Leere laufen

Doch nicht mal von jenen, die sich einst zur Netzgemeinde zählten, ist gerade viel zu sehen. Es stimmt ja: Die Debatte über Spionage, Privatsphäre, den Schutz gegen Cyberattacken ist sperrig. Ein unbequemes Thema. Furchtbar wichtig, aber auch ziemlich schwer zu vermitteln. Und es ist zehn Uhr morgens. Ziemlich früh für unbequeme Debatten: Der Saal ist fast leer, vielleicht zwei Dutzend Teilnehmer sind gekommen, um über eine "Reformagenda für Geheimdienste" zu diskutieren.

Und über die wirklich zentrale Frage: Wo liegt die Grenze zwischen dem Streben nach größtmöglicher Sicherheit und dem Schutz der Privatsphäre? "Welche Maßnahmen sollten wir einfach nicht mehr tun, obwohl wir sie technisch können und obwohl sie womöglich hilfreich sein könnten im Kampf gegen den Terroismus?", wendet sich ein Teilnehmer ratsuchend an Selmin Çalışkan, die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. "Ich habe kein Rezept dafür", kontert Çalışkan. "Dafür gibt es doch die Republica. Damit ihr hier genau solche Frage diskutiert."

... Welche Gefahr die Überwachung für die Demokratie darstellt

So elegant Amnesty-Deutschland-Chefin Çalışkan die gesamte Gesellschaft in die Pflicht nimmt, die Regeln für den Umgang mit der Privatsphäre zu definieren, so flammend ist ihr Appell, dieses Thema auch wirklich ernst zu nehmen: "Die Massenüberwachung ist wie ein tödliches Virus. Sie tötet die organisierte Zivilgesellschaft", sagt die Menschenrechtlerin. "Wer will denn mit euch noch zusammenarbeiten, wenn er weiß, dass ihr auch überwacht werdet." Die Menschen trauten sich nicht mehr, sich zu organisieren, wenn sie so ausgespäht werden. "Wir bleiben zu Hause, gehen nicht mehr zu Demonstrationen. Wir nehmen nicht mehr die Möglichkeit wahr, den Staat und die Regierung zu kontrollieren", argumentiert Çalışkan.

"Komm doch auch Du vorbei!"

... Warum es so schwierig ist, Menschen dauerhaft zu mobilisieren

In den vergangenen Jahren gab es weltweit massive Proteste, von denen viele eins gemeinsam haben: Sie sind verpufft, zumindest auf struktureller Ebene. Ethan Zuckerman vom MIT hat in seinem Talk versucht, die Schwäche von sozialen Bewegungen zu erklären.

Die Beispiele sind ja erstaunlich: Die Proteste rund um den Gezi-Park in Istanbul haben Millionen Menschen auf die Straße gebracht. Einig war sich diese Menge vor allem in einem Punkt: Der damalige Premierminister Erdoğan sollte zurücktreten. Doch wer sich die Türkei heute anschaut, sieht Erdoğan an der Spitze des Landes: Mittlerweile als Staatspräsident.

Wie kommt das also? Zuckerman zufolge ist das Organisieren von Protesten einfach. Soziale Netzwerke funktionieren live und treiben so die Massen auf die Straße. Habe es früher einen immensen Aufwand bedeutet, maximal 50 000 Menschen zu organisieren, sei es heute ein Klacks, Massen zu erreichen. Diese Einfachheit führe dazu, dass die Proteste von vornherein sehr brüchig sein können. Gerade im Gezi-Park lasse sich das gut beobachten: Damals hieß das Motto "Sen de gel" - das lässt sich übersetzen mit: "Komm doch auch du vorbei!". In der Folge haben Nationalisten neben Homosexuellen gemeinsam gegen Erdoğan protestiert. Doch als es darum ging, de facto Politik zu machen, sind diese Bündnisse schnell zerfallen.

Dieses lose Zusammengehörigkeitsgefühl erlaube es Politikern, Proteste eher auszusitzen. Die Rede von Zuckerman gibt es auf einem Blog zum Nachlesen. Angenehm kluge Gedanken.

Und wie sozialer Protest langfristig geführt wird, können wir derzeit in den USA sehen, wo in den vergangenen Jahren viele schwarze Menschen in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen sind. Die New York Times hat die Hintergründe zu der #Blacklivesmatter-Bewegung aufgeschrieben. Dahinter stehen vor allem auch zwei Personen: DeRay McKesson und Johnetta Elzie. Wer sich den Artikel durchliest, erkennt schnell, wie viel harte Arbeit hinter den Protesten in den USA steckt - und warum diese Bewegung auch politisch langfristiger sein könnte. Die Geschichte der Unterdrückung von schwarzen Menschen in den USA ist lang - und kann nun über soziale Netzwerke mit einem Tweet aktiviert werden.

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