Republica 2016:"Auf Facebook werden wir zu Produzenten unserer Erinnerungen"

Stephanie-Neumann-by-Astrid-Salomon

Fotografin Stephanie Neumann: "Je mehr ich dokumentiere, desto weniger erlebe ich den eigentlichen Moment und desto weniger erinnere ich mich später daran."

(Foto: Astrid Salomon)

Die Digitalisierung verändert die Art, wie wir uns erinnern. Fotografin Stephanie Neumann erklärt, wie wir es trotzdem schaffen können, nichts Wichtiges zu vergessen.

Interview von Sara Weber, Berlin

Die Uhr, die Stephanie Neumann um den Hals trägt, hat sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen. Es ist ein Erinnerungsstück, dessen Bedeutung aber erst durch die Interpretation deutlich wird: Wer nicht weiß, dass die Uhr mit Neumanns Oma in Verbindung steht, wird sie nur als Schmuck wahrnehmen. Doch was passiert, wenn immer mehr unserer Erinnerungsstücke ins Digitale wandern und nicht mehr für uns greifbar sind - weil sie auf Smartphones und Festplatten gelagert werden?

"Wir können mit unserem Smartphone alles dokumentieren, aber je mehr wir dokumentieren, desto mehr kann es sein, dass wir den tatsächlichen Moment nicht mehr erleben", sagt Stephanie Neumann. Sie erforscht am Urban Complexity Lab Potsdam das Erinnern und Vergessen im Digitalen Zeitalter und spricht auf einem Panel der Republica 2016 mit der Historikerin Katja Böhme über das Thema. Im Interview erklärt Neumann, warum wir neue Wege finden müssen, um uns im digitalen Raum zu erinnern - und welche Tools uns dabei helfen können.

SZ: Frau Neumann, Sie erforschen das Erinnern und Vergessen im digitalen Zeitalter. Wie wichtig ist Erinnern für uns?

Stephanie Neumann: Das ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Erinnerungen haben viel zu tun mit Identität, mit dem, wo wir herkommen, wer wir sind, und wo wir hinwollen. Aber damit wir uns erinnern können, müssen wir auch das Vergessen ermöglichen. Denn sonst überlagert eine riesige Menge unwichtiger Erinnerungen die wichtigen. Das gilt vor allem im Digitalen: Wir haben zwar sehr viele Daten, aber uns fehlen oft noch die Strategien, mit ihnen umzugehen. Denn Daten allein sind noch keine Erinnerungen.

Welche Auswirkung hat die Digitalisierung auf unser Erinnern?

Nehmen wir Fotos. Das Filmmaterial war früher kostspielig, deshalb traf man eine bewusste Entscheidung, was man fotografiert. Heute stellt sich diese Frage nicht mehr - die Masse an Bildern ist deshalb viel größer. Außerdem haben wir früher häufig direkt eine Auswahl getroffen: die besten Bilder kamen ins Fotoalbum, die restlichen in einen Schuhkarton. Durch solche Entscheidungen sammeln wir auch die Quintessenz von dem, was wir bewahren möchten.

Aber ist es nicht auch schön, nicht mehr bei jedem Foto nachdenken zu müssen, ob wir es wirklich machen sollten?

Erstmal ja. Die Krux ist: Je mehr ich dokumentiere, desto weniger erlebe ich den eigentlichen Moment und desto weniger erinnere ich mich später daran. Eine Studentin von mir erlebte bei einer Reise nach St. Petersburg die Stadt nur durch die Kamera. Bei einer Kontrolle wurde ihr Filmmaterial aus Versehen belichtet. Und erst da hat sie bemerkt, dass sie kaum eigene Erinnerungen an die Stadt hat.

Außerdem sind wir oft nachlässig mit unseren Daten. Unsere Telefone gehen kaputt, wir kaufen einen neuen Computer, wir vergessen das Backup. So verlieren wir auf einen Schlag tausende Fotos und andere Daten. Und oft wissen wir nicht einmal, welche Schätze uns verloren gehen, weil wir keinen Überblick mehr über die Dinge haben. Deshalb brauchen wir Methoden, um unsere Daten zu priorisieren, zu kuratieren und zu bewahren.

Welche Möglichkeiten gibt es denn, den Wust an Daten überschaubarer zu machen?

Auf Instagram verwenden wir bereits Stichworte, die es uns leichter machen, unsere Bilder zu sortieren. Ein ähnliches System würde uns auch dabei helfen, unseren privaten Datenwust zu ordnen, den wir anhäufen.

Ein Beispiel für ein Feature, das ich mir für die Zukunft wünsche: Wenn ich eine Datei aufrufe, möchte ich den gesamten Kontext dazu sehen. Klicke ich ein Bild auf meinem Computer an, möchte ich nicht nur wissen, wann und wo es aufgenommen wurde, sondern auch, was damit verknüpft ist, in welchen sozialen Medien ich es gepostet habe, welche Kommentare dazu geschrieben wurden. Denn diese kommunikative Ebene kommt heute ja auch noch dazu. Es kann sogar vorkommen, dass ich mich gar nicht mehr so genau an das gepostete Bild selbst erinnere, aber dafür an das Gespräch, das drum herum geführt wurde.

Und wenn ich zu den Fotos dann auch noch Audios oder persönliche E-Mails sehen würde, die zur selben Zeit entstanden sind, würde mir das noch mehr Hintergrund geben. Erst, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie Dinge entstanden sind, können wir sie auch wertschätzen.

"Uns fehlt noch eine digitale Schatztruhe"

Wie erinnern uns aber nicht nur über Fotos, sondern auch über andere Objekte. Früher waren das Zugtickets, Kinokarten, Streichholzschachteln aus Restaurants. Und heute?

Die Digitalisierung ermöglicht es uns, ganz neue Formen von Artefakten zu bilden. Wir können Fotos mit GPS-Daten verknüpfen. Wir können, etwa während wir reisen, Texte schreiben und Audios aufnehmen und diese mit den Fotos zusammen abspeichern. Wir können Screenshots machen, um einen Moment festzuhalten: einen besonderen Chat bei Facebook speichern oder ein Bild auf Snapchat.

Wir wollen also mehr haben als nur Fotos, um uns zu erinnern.

Wir suchen nach Mitteln, wie wir unsere Erinnerung mit Kontext anreichern können. Aber auch da gibt es verschiedene Ansätze. Die Frage lautet immer: Was haben wir für Daten und was erinnern wir? Waren wir auf einer Reise, stellt Google uns jetzt schon ein persönliches Album zusammen, das uns zeigt, wann und wo wir mit wem waren und welche Bilder wir dort aufgenommen haben.

Für wie sinnvoll halten Sie diese Funktion?

Ich denke, dass viele Leute das annehmen. Ich persönlich stelle mir die Frage, ob ich das wirklich will. Mir ist klar, dass Dienste wie Google und Facebook meine Daten haben, aber ich merke, dass ich eigentlich nicht möchte, dass meine Erinnerungen automatisch "erstellt" werden. Derzeit sind die Algorithmen noch wenig präzise und unsensibel für Kontexte, so dass es zum Teil zu unfreiwillig komischen Situationen kommt, bis hin zu tragischen Momenten, wie etwa bei einem Vater, der von Facebook mit fröhlichen Piktogrammen an den Tod seiner Tochter erinnert wurde.

Und wenn die Algorithmen präziser werden, wird es eventuell auch unheimlich - denn wer genau erinnert dann und wem gehören diese Erinnerungen? Es ist so: Ich persönlich möchte gerne die Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen ich meine digitalen Erinnerungsartefakte kuratieren kann und den Prozess dann selbst durchführen.

Sie sprachen ja eben schon Facebook an. Wir nutzen soziale Netzwerke, um uns und unser Leben zu präsentieren. Aber dort stellen wir uns ja immer auf eine bestimmte Art und Weise dar. Inwieweit beeinflusst das denn unsere Erinnerungen?

Auf Facebook werden wir zu Produzenten unserer Erinnerungen. Wir teilen oftmals nur unsere schönsten und erfolgreichsten Erlebnisse und entscheiden bewusst, wie andere uns sehen sollen. Weil unser persönliches Netzwerk auf Facebook für viele von uns mittlerweile zu groß geworden ist, um wirklich private Sachen zu teilen, weichen wir damit auf andere Dienste aus. Auf Instagram kann ich beispielsweise auch mal Bilder posten, die mit traurigen Erinnerungen verbunden sind- das erkennen dann eher nur Freunde. Und Snapchat ist eben dazu da, um den Moment zu teilen. Die Plattformen bilden sich nach unseren Bedürfnissen aus.

Allerdings fehlt uns womöglich noch eine digitale Schatztruhe, in der wir all unsere Kostbarkeiten hineinlegen, wie wir sie im Physischen oft besitzen.

Warum brauchen wir eine solche Schatztruhe denn überhaupt?

Wir brauchen sie nicht nur für uns, sondern auch für unsere Nachfahren. Erst wenn wir für uns priorisieren können, was uns wichtig ist, können das auch Nachkommende erahnen. Denn was passiert, wenn sich jemand nach unserem Tod unser Leben anschaut? Wie kann er sehen, was uns wichtig war? Bei einer Wohnungsauflösung erkennt man oftmals anhand von Fotoalben und gerahmten Bildern die Wertschätzung bestimmter Erinnerungen. Ein Blick in den Laptop, zumindest in meinen, zeigt erstmal nur einen riesigen Datenberg. Da ist also noch Luft nach oben.

Wie digitales Erinnern heute schon funktionieren kann (oder in Zukunft funktionieren könnte):

  • Das Stadtmuseum Berlin hat für eine Ausstellung einen Aufruf nach Bildern aus West-Berlin zwischen 1945 und 1990 gestartet und diese online als Erinnerungsartefakte verfügbar gemacht.
  • Die App Timehop erinnert an Ereignisse, die vor einem Jahr passiert sind.
  • Selten gehörte Lieder können mit Adopt-a-Song zur Adoption freigegeben werden.
  • Mit der App Souvenir können virtuelle Fotoalben erstellt werden.
  • Eva Burneleit hat einen interaktiven Grabstein entwickelt.
  • Appspeck ist ein Konzept, das digitales Abspecken erleichtert: etwa mit Fotos, die sich zu bestimmten Zeiten oder unter bestimmten Bedingungen löschen.
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