Onlinesucht:Verloren in Zeit und Raum

Sie lassen ihr Leben in die Brüche gehen, um am Computer zu spielen: Millionen junge Männer gelten als gefährdet oder bereits onlinesüchtig - einige zeigen ähnliche Symptome wie Drogenabhängige.

R. Preuß

Gleich am Eingang, neben der Küchentür, hat Erik ein Lebkuchenherz aufgehängt. "Für die liebste Mama", steht darauf in Zuckerschrift. Er hatte es ihr auf dem Oktoberfest geschenkt - vor fast fünf Jahren, bevor sein Leben außer Kontrolle geriet. Es ist ein Erinnerungsstück aus einer Zeit, als er und seine Mutter Maria es noch gut aushielten miteinander in der 55-Quadratmeter-Wohnung im Westen Münchens.

Onlinesucht,  Schellnegger

"Es ist unendlich": Drei Jahre lang war Erik dem Computer-Spiel "World of Warcraft" verfallen, erst mit Hilfe einer Therapie kam er von seiner Sucht los.

(Foto: Foto: Alessandra Schellnegger)

Als er sie noch nicht aus seinem Zimmer warf und Maria keinen Grund sah, mit dem Hammer auf ihn loszugehen, weil er wieder nächtelang vor dem Computer spielte. "Ich habe drei Jahre meines Lebens verloren", sagt der 19-Jährige. "Es ist sehr viel kaputtgegangen zwischen uns", sagt Maria.

Die Geschichte von Erik und Maria, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, beginnt vor sechs Jahren, mit einem Geschenk. Zur Firmung bekam Erik von der Mutter einen Computer und einen Internet-Anschluss. Seine Firmung bedeutete ihr viel, denn Maria ist gläubig. Über der Küchentür hängt ein Bildchen der Mutter Gottes, an der Wand eines von Jesus. Kurz zuvor war Eriks Vater gestorben, an Krebs. Jetzt sollte es wenigstens der Junge gut haben.

Endlich konnte Erik mithalten

Eigentlich war der Rechner für die Schule gedacht, doch dem Sohn war sofort klar, dass er eine Spielmaschine ist. Endlich konnte er mit seinen Freunden mithalten, die schon ausgerüstet waren für die neueste Spiele-Generation. Während er bisher mit seinem Gameboy nur gegen den Computer spielte, konnte er sich nun ebenfalls im Internet an weit entfernten Mitspielern messen.

Erik ging in die 7. Klasse eines Münchner Gymnasiums, er war ein guter Schüler. Wenn er nach Hause kam, schmiss er den Schulranzen erst einmal in die Ecke und spielte ein paar Stunden am neuen Rechner. Dann waren die Schularbeiten dran. Es war ein Zeitvertreib, nichts Ungewöhnliches für einen Pubertierenden. Die Noten blieben gut, die Mutter unbesorgt.

Erik ging weiter zum Fitness-Training, fuhr zu seinem besten Freund Janek und bekämpfte mit ihm Nachtelfen, Untote und was die Phantasiewelt noch so an Gegnern aufbot. Irgendwann war das Spiel langweilig, denn es wiederholte sich.

Ein zweites Leben in einer anderen Welt

Diese Langeweile hatte erst ein Jahr später ein Ende, mit dem Spiel "World of Warcraft", zu Deutsch "Welt der Kriegskunst". Die Programmierer hatten eine weitläufige Phantasiewelt erschaffen, mit Hexenmeistern, Druiden, Magiern und weiteren Figuren, die ans Mittelalter erinnern, vor allem aber war sie voll mit anderen Spielern. Diesen begegnet man, schließt sich zu Gilden zusammen, unterhält sich übers Netz und besteht gemeinsam Schlachten und Abenteuer.

Es ist wie ein zweites Leben in einer Welt, die viel mehr zu bieten scheint als Schulalltag oder Sonntagsausflüge. Man muss Aufgaben erledigen, kann zum Gruppen-Führer aufsteigen oder auch nur in einer Taverne mit anderen Plaudern. "Man kann es das ganze Leben lang spielen, es ist unendlich", sagt Erik.

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Computer statt Freunde

Er kaufte sich das Spiel, 14 Euro im Monat musste er für das Abo zahlen. Die Entdeckungsreisen dauerten Stunden, ohne dass es Erik groß auffiel. Wenn er von der Schule kam, gab es kaum etwas anderes mehr. Erik zog den Computer dem Ausgehen mit Freunden vor, vergaß Geburtstage und den Muttertag. Selbst die Beziehungen zu seinen Freundinnen konnten ihn nicht so sehr fesseln wie die Abenteuer im Netz, sie scheiterten alle nach wenigen Monaten.

Erik ist ein durchtrainierter Typ, mit ebenem Gesicht und kurzen, dunklen Haaren, niemand der sich verstecken müsste. Nun aber versuchte er Mädchen vor allem in der Phantasiewelt kennenzulernen, quatschte andere Spielfiguren in den virtuellen Wirtshäusern an und wollte herausfinden, ob die richtige Frau für ihn dahintersteckt. Freund Janek hatte damit Erfolg gehabt, bei ihm klappte es nicht.

Maria sah nun öfter nachts das Licht brennen im Zimmer ihres Sohnes, auch an Schultagen. Erik konnte im Gymnasium nicht mehr mithalten, drei Sechser standen im Zwischenzeugnis der 9. Klasse. Maria stürmte in sein Zimmer, wenn es spät wurde, herrschte ihn an, den Computer abzustellen und endlich ins Bett zu gehen. Erik schrie dann: "Ich mach, was ich will." Doch das war nur der Anfang.

Den Computer zerschlagen

Maria versuchte ihn mit Ohrfeigen wieder auf den rechten Weg zu zwingen, er nannte sie dafür "Schlampe" und fragte: "Was bist du für eine Mutter?" Nachts konnte sie nicht schlafen, während ihr Sohn weiter spielte, bis zu zehn Stunden am Tag. Erik ist ihr einziger Sohn, alles was ihr nach dem Krebstod ihres Mannes geblieben ist.

Und doch nahm sie einen Hammer und drohte, ihn und seinen PC zusammenzuschlagen und aus dem Fenster zu werfen. Sie wollte nicht mehr leben in diesen Tagen. Doch Selbstmord kam nicht in Frage für sie, die gläubige Katholikin. Erik dagegen drohte ihr damit: Wenn du mir keinen neuen PC kaufst, bringe ich mich um.

Christina Hoch nickt, als sie die Geschichte von Eriks Drohung hört, das komme bei Online-Süchtigen öfter vor, sagt sie. Die Psychologin sitzt am Ende eines langen Flures im Uniklinikum Mainz, sie bietet die bundesweit erste Therapiegruppe speziell für Computerspiel-Süchtige an. Es ist ein junges, wenig erforschtes Gebiet, dem sich Hoch zugewandt hat.

Drei bis sieben Prozenz aller Internetnutzer online-süchtig

Im Mai wurde die Computer- und Internetsucht erstmals im Drogenbericht der Bundesregierung aufgeführt, drei bis sieben Prozent aller Internetnutzer in Deutschland gelten ersten Studien zufolge als "online-süchtig" und ebenso viele als stark suchtgefährdet - dies summiert sich auf zweieinhalb bis sechs Millionen Abhängige. Es gibt weitere Forschungsaufträge und Modellprojekte, aus denen die "Ambulanz für Spielsucht" in Mainz herausragt.

Christina Hoch wirkt jugendlich, doch sie analysiert mit der Abgeklärtheit einer Therapeutin, die schon einige Jahre mit Rauschgiftsüchtigen zu tun hatte. Zu ihr kommen die Dauerspieler zuerst, fast nur Jugendliche und Männer zwischen 14 und 30 Jahren. Der Älteste, der seit dem Start der Therapie im März vergangenen Jahres Rat suchte, war 40 Jahre. Die Jugendlichen tauchen meist mit ihren Eltern auf.

Während Hoch spricht, wartet schon wieder einer auf dem langen Flur, ein hagerer Junge, vielleicht 18 Jahre alt, mit bleichem Gesicht und schwarz gefärbten Haaren, begleitet von einem graumelierten Mann, der sein Vater sein dürfte. Die Süchtigen kommen aus reichen wie aus armen Familien. Den Anlass liefern oft schlechte Noten oder Wutausbrüche, wenn die Eltern den PC-Stecker aus der Wand ziehen.

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Der Reiz des Spiels

Herausforderung neben der Schule

Hoch beobachtet unter ihnen auffällig viele Intelligente und Hochbegabte, die im Spiel zunächst eine willkommene Herausforderung neben der Schule sehen oder ihrer Außenseiterrolle entfliehen. Die Erwachsenen treiben Abmahnungen des Arbeitgebers, gekündigte Wohnungen oder auch das abgebrochene Studium in die Uniklinik. Warum aber kommen nur Männer? Sie würden von der archaischen Phantasiewelt der Online-Spiele besonders angesprochen, vermutet Hoch, dort könnten sie kämpfen, erobern, Macht ausüben - und endlich einmal mitreden.

Immer wieder haben ihre Patienten den Reiz des Spiels damit begründet, dass es alles vergessen helfe, was im wirklichen Leben nicht laufe und Frust bereite. "Das sind eigentlich Erfolgreiche, die schwer mit Misserfolg umgehen können", sagt Hoch.

Parallelen zu klassischen Suchererkrankungen

Dass Online-Spiele süchtig machen können, daran haben Hoch und ihr Kollege Kai Müller keinen Zweifel. "Wir sehen ganz, ganz viele Parallelen zu den klassischen Suchterkrankungen", sagt der Psychologe. 80 Prozent ihrer Patienten spielten "World of Warcraft", sagt Hoch. Das Unternehmen Blizzard, das dieses Spiel anbietet, ließ mehrere Anfragen zur Suchtgefahr unbeantwortet. Es bietet Eltern aber an, den Zugang sperren zu lassen oder die Spielzeit der Kinder zu befristen - ein Schutz, der laut Hoch leicht ausgehebelt werden kann.

Von einem Verbot des Spiels hält Müller dennoch nichts. Man würde 90 Prozent der Nutzer unrecht tun, die viel Spaß daran hätten. Sinnvoll aber sei, die Altersgrenze von derzeit zwölf Jahren anzuheben. Gelernt werden müsse vor allem der kontrollierte Umgang mit dem PC. Die Spieldosis also macht das Gift.

Wer die Kontrolle verloren hat, kann sich um eine Therapie in Mainz bewerben. Acht Abhängige sitzen dort regelmäßig zusammen und versuchen 20 Wochen lang durch Gespräche und Selbstverpflichtungen von der Welt des Spiels loszukommen. Sie sollen verstehen, warum sie süchtig wurden, und lernen, abstinent zu sein. Wie ein Alkoholiker durch eine Schnapspraline wieder zum Trinker werden kann, so droht diesen Süchtigen schon bei einem kurzen Spielchen der Rückfall.

Hoch lässt ihre Patienten in einer Zeremonie vor der Gruppe Abschied nehmen von dem sogenannten Avatar, der eigenen Spielfigur, mit der man in der Online-Welt auftrat. Eine Trauerfeier für das zweite Ich. Dann wird der Zugang zum Spiel gesperrt.

Der entscheidende Schritt aber ist früher, der Spieler muss erkennen, dass er süchtig ist, weil sonst jede Therapie nichts bringt. Diese Einsicht dämmert den meisten Spielern aber erst, wenn sie schon tief drin stecken in der Sucht, wenn sie Freunde oder Job verloren, Schule oder Studium abgebrochen oder Bekanntschaft mit dem Gerichtsvollzieher gemacht haben.

Die Eltern müssen klare Regeln vorgeben und spürbar strafen, sagt Hoch. Doch auch sie weiß, dass Abhängige, denen der PC abgestellt wird, oft anfangen, ihre Eltern zu schlagen. "Die große Entscheidung, ob man dann die Polizei ruft, können wir niemandem abnehmen - das Risiko, das Kind zu verlieren, ist immer da."

Der erste Schritt für eine Therapie

Christine und Christoph Hirte haben erlebt, wie schnell dieser Fall eintritt. Sie drängten vor zwei Jahren ihren Sohn zu einer Therapie und drohten dem Studenten, kein Geld mehr zu überweisen. Der Sohn aber wollte nicht und brach den Kontakt ab. Die Hirtes gründeten daraufhin in München die Elterninitiative "Rollenspielsucht.de", an diesem Abend sitzen sechs Väter und Mütter zusammen und rätseln, was ihre Söhne wohl herausführen mag aus ihrem zweiten, höllischen Leben.

Auch in ihren Fällen sind alle "World of Warcraft" verfallen. Es sind Geschichten von unzähligen, fruchtlosen Gesprächen mit den Abhängigen. Von Eltern, die ihre Söhne mit Mädchen verkuppeln wollten, in der Hoffnung, ihn so aus der Scheinwelt zu holen; vom Schüler, der einen Abiturschnitt von 1,2 erreichte, sein Studium aber abbrach und täglich nach durchspielter Nacht erst gegen drei Uhr nachmittags aus dem Bett kommt. "Als ich ihm eine Therapie in der Fachklinik vorschlug, zeigte er mir einen Vogel", sagt seine Mutter.

Und so lautet die große Frage in der Runde, wie tief der Sohn wohl noch fallen muss, um es endlich zu kapieren? "Von mir wird er jedenfalls kein Geld mehr kriegen", sagt eine Mutter. Doch wem fällt so eine Entscheidung schon leicht? Ihr Sohn wisse, dass sie es nicht übers Herz bringen würde, ihn rauszuwerfen, sagt die Mutter des Einser-Abiturienten. "Und wenn ich ihn fallenlasse, wer garantiert mir, dass er wieder nach oben kommt?", fragt Galina Paukert, die Mutter eines 25-Jährigen.

Erik hatte vor drei Jahren seinen Sturzflug begonnen. Er fiel in der 9. Klasse durch und musste auf die Realschule. "Wenn du die Mittlere Reife nicht schaffst, kannst du gehen", sagte Maria. Nach seiner Selbstmorddrohung schlossen Mutter und Sohn einen sonderbaren Pakt: Er bekam einen neuen Computer und versprach dafür, die Schule fertig zu machen. Erik nahm wieder seine Schulbücher in die Hand, er hielt sich an die Abmachung. Seinen Abschluss hat er vergangenen Sommer geschafft. Der Schüler arbeite "konzentriert und zuverlässig", steht in seinem Abschlusszeugnis.

Danach aber spielte er umso mehr, brach eine Lehre ab und jobbte. An Weihnachten vergangenen Jahres aber überwältigte ihn die Unzufriedenheit mit seinem Leben. Es dämmerte ihm, dass die Touren durch die Spielewelt nicht so cool sind, wie er immer dachte. Bei Treffen mit den übriggebliebenen Bekannten fühlte er sich als Außenseiter. "Ich hatte Angst vor dem Abstieg." Er tat den Schritt, auf den Maria gewartet hatte: Erik verkaufte den PC, übergab der Mutter das Modem und begann eine Therapie. Vor kurzem kündigten die beiden sogar den Internetanschluss. Nur ein Notebook ist ihm geblieben.

Über seinem Schreibtisch hängen jetzt Zettel, auf denen Handball, Fußball und Schlagzeug steht. Er hat viel verlernt in seinen Sucht-Jahren, vor allem, mit Menschen zu reden, sagt Erik. "Ich hätte in dieser Zeit einige Freundinnen haben oder eine Band gründen können." Seinen besten Freund Janek hat er nie wieder gesehen; der spiele nach wie vor.

Erik hat die Kurve zurück ins echte Leben gekriegt, doch mit seiner Mutter findet er nicht mehr zusammen, auch wenn sie sich noch die Wohnung teilen. Auch der Realschulabschluss taugte nicht als Friedensvertrag. Erik hat zwar eine neue Lehrstelle gefunden, doch er bezeichnet sein Leben als "bitter". Drei verlorene Jahre, das verpasste Abitur, Erik nimmt es sich übel - und seiner Mutter.

"Du hast es nicht verhindert, du warst nicht streng genug", sagt er. Es sind Vorwürfe, die Maria sofort laut werden lassen. Er sei doch immer zum Freund gefahren, wenn er zu Hause nicht spielen durfte, kontert sie. Erik aber bleibt bei seiner Version. Seine "liebste Mama", glaubt er, war zu lieb.

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