Online-Demokratie:Wie die Bürgerbefragung zur Netzneutralität manipuliert wurde

Online-Demokratie: Protest-Plakate gegen die Abschaffung der Netzneutralität vor einem Geschäft des Internet-Providers Verizon in Boston. Kritiker sagen, dass Konzerne besonders von einer Änderung der Spielregeln für Datenübertragung im Netz profitieren würden.

Protest-Plakate gegen die Abschaffung der Netzneutralität vor einem Geschäft des Internet-Providers Verizon in Boston. Kritiker sagen, dass Konzerne besonders von einer Änderung der Spielregeln für Datenübertragung im Netz profitieren würden.

(Foto: AFP)

Sie stimmen sogar im Namen Verstorbener ab: Bots fluten Online-Debatten mit programmierten Kommentaren. Auch in der digitalen Demokratie sollte der Bürger manchmal noch physisch anwesend sein.

Von Volker Bernhard

Der Moderator John Oliver hielt in seiner Show "Last Week Tonight" eine flammende Rede für den Erhalt der Netzneutralität. Denn die Federal Communications Commission (FCC), die US-Bundesbehörde, die über Wohl und Wehe des Netzes entscheidet, will die Datenübertragung im Internet dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen, sie will die Netzneutralität abschaffen.

Oliver bat seine Zuschauer in ungewöhnlichem Ernst darum, auf die Website GoFCCYourself.com zu gehen, die direkt auf die Seite der FCC weiterleitet. Dort sollten sie von ihrem Recht Gebrauch machen, gegen den FCC-Beschluss zu protestieren. Es gelte, so Oliver, "fünf bis zehn Minuten" in den Erhalt der Netzneutralität zu investieren. Die FCC ist - wie alle US-Bundesbehörden - gesetzlich dazu verpflichtet, Stellungnahmen von Bürgern zu berücksichtigen.

Über den Erhalt der Netzneutralität wird schon seit Jahren debattiert. Zuletzt kochte das Thema 2014 hoch. Damals liefen bei der FCC in einem knappen halben Jahr annähernd vier Millionen Nutzerkommentare ein. Doch jetzt waren es in vier Monaten 21,7 Millionen. Wie kam es zu diesem immensen Anstieg? Zum einen handelte es sich wohl um viele tatsächlich besorgte Bürger, die mit dem Ende der Netzneutralität eine mögliche Zensur von Netzinhalten befürchten.

Eine ungleich größere Anzahl von "Stimmen" wurde aber einer Studie des Pew Research Centers zufolge durch sogenannte "Trollbots" abgegeben. Das sind Computerprogramme, die sich wie Bürger gerieren, aber massenhaft Stimmen abgeben und so massiv in die Meinungsbildung im Netz eingreifen.

Nur sechs Prozent der Kommentare kamen von echten Menschen

So sind laut der Studie nur sechs Prozent der jetzt abgegebenen Kommentare von tatsächlichen Menschen geschrieben worden. Bei den restlichen 94 Prozent bestehen massive Zweifel an ihrer Herkunft und ihren Intentionen. So können tausendfach identische Kommentare dadurch entstehen, dass Menschen mit wenigen, einfachen Klicks auf einer Seite einen vorbereiteten Kommentartext in ihrem Namen abgeben. John Olivers Initiative ist dafür ein Beispiel. Doch effektiver als jede Klick-Bewegung sind die Trollbots: Während Olivers Seite immer noch einen Menschen benötigt, der klickt, können Bots in derselben Zeit Tausende Beiträge automatisiert absetzen.

Die FCC machte es den Trollbots auch ausgesprochen leicht. Auf gängige Überprüfungen, die sicherstellen, dass tatsächlich ein Mensch den Kommentar erzeugt, wurde verzichtet. Auch die Adressen der Kommentatoren wurden nicht kontrolliert. Aus diesen Gründen ist nicht nachvollziehbar, wer oder was sich auf der FCC-Website mit einem Meinungsbeitrag zu Wort gemeldet hat. Laut der Studie wurde aber mindestens eine Million der vermeintlichen Bürgerstimmen von Trollbots abgegeben, die Dunkelziffer ist erheblich.

Zur Masse an Stimmen wird auch eine Raffinesse in den Formulierungen kommen

Dieses Unwissen ist bezeichnend: Bots prägen längst das Stimmungsbild im Netz. Oft ist nicht mehr auszumachen, wer eigentlich spricht. Soziale Netzwerke sind zu sozialen Botparks geworden, in denen sich Software mit Software unterhält. Die Bots von echten Nutzern zu unterscheiden, wird immer schwieriger, langfristig wird das die Sprechakte in der digitalen Welt weiter entwerten. Und durch fortlaufende Neuentwicklungen auf dem Feld der künstlichen Intelligenz werden die Bots nicht nur immer mehr, sondern auch immer raffinierter formulierte Inhalte generieren.

Im schlimmsten Fall hat ein Bot nicht nur eine Fantasie-Identität, sondern spricht im Namen eines realen Menschen. Bereits im Fall der FCC-Konsultation wurden Hunderttausende Namen und Adressen von Bürgern benutzt, um im Schein ihrer geraubten Identitäten Kommentare gegen die Netzneutralität abzusondern. Sogar die Namen von Verstorbenen wurden benutzt. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der Eric Schneiderman, den Generalstaatsanwalt des Bundesstaates New York, auf den Plan rief. Allerdings findet er kaum Unterstützung durch die FCC. In einem offenen Brief beklagte Schneiderman, dass er trotz unzähliger Bitten um Mithilfe von der nun republikanisch dominierten Behörde keine Antwort erhalten habe.

Die geflutete FCC-Kommentarseite verdeutlicht, dass die physische Präsenz des Bürgers für Demokratien weiterhin wichtiger ist, als es Techno-Utopisten noch vor Jahren vorschwebte. Sie hegten noch Anfang dieses Jahrzehnts Hoffnungen, dass das Internet emanzipatorische Kräfte befördere und die Demokratie stärke - man denke etwa an die "Twitter-Revolutionen" des Arabischen Frühlings. Der ägyptische Internet-Aktivist und Google-Mitarbeiter Wael Ghonim prägte damals den oft zitierten Satz: "Um eine Gesellschaft zu befreien, braucht man ihr nur Zugang zum Internet zu geben."

Ghonim übersah die wichtigste Kraft von Protestbewegungen. Bei der grünen Revolution im Iran 2009 und während der Aufstände im arabischen Raum ab 2010 konnten durch soziale Medien zwar Informationen geteilt, Aktionen geplant und Netzwerke geknüpft werden - politische Kraft und Brisanz entwickelten die Revolutionen aber erst, als sich Menschen auf die Straßen begaben. Die relative Folgenlosigkeit ausschließlicher Online-Aktivität beschreibt darum der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch "Flüchtige Moderne". Für ihn schnurrt politisches Interesse im digitalen Raum auf "Momente, Punkte ohne räumliche Ausdehnung" zusammen, die eben jenen von John Oliver beschworenen "fünf bis zehn Minuten" der demokratischen Teilhabe entsprechen.

Auch wenn im Zeichen der Digitalisierung zur Zeit ein Strukturwandel der Öffentlichkeit stattfindet: Demokratie ist ohne den trägen Körper des Bürgers nicht zu haben. Er geht zur Wahl, demonstriert auf der Straße, besucht die Bürgersprechstunde oder leistet politische Basisarbeit. Der Körper ist der untrügliche Beweis dafür, dass tatsächlich ein Bürger spricht - und kein Trollbot.

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