NSA-Affäre:Abwiegeln, ablenken, kleinreden

Auch 100 Tage nach Edward Snowdens Enthüllungen ist nichts passiert. Nichts wurde korrigiert. Weder mit Geld noch mit Technik ist der massiven Überwachung im Internet zu entkommen. Die Bundesregierung, die etwas ändern könnte, ist nur mit Ablenkungsmanövern beschäftigt.

Ein Kommentar von Johannes Boie

Seit gut 100 Tagen kann das Netz nicht mehr der Lebensraum sein, der es war. Seit gut 100 Tagen ist klar, dass das Netz okkupiert ist, beobachtet wird, genau wie die Menschen, die es nutzen. Damals veröffentlichten die Washington Post und der Guardian erste Informationen des Whistleblowers Edward Snowden, seitdem kennt die Welt viele Details über das größte Abhörprogramm in einem Rechtsstaat jemals. Nichts wurde in der Zwischenzeit korrigiert. Nichts hat sich geändert, nichts ist in Ordnung.

Die Überwachung der Bürger durch die Geheimdienste geschieht massenhaft und routiniert im Netz. Weil sie im Netz geschieht, dringt sie ins Leben jeden Bürgers in Deutschland ein, und in vielen anderen Ländern, denn das Netz funktioniert nun eben einmal über die Grenzen von Nationen hinweg.

Es ist wie in einem der alten Arcade-Computerspiele, die aus einer Zeit stammen, in der Computer noch in Spielhallen standen und nicht ans Netz angeschlossen waren. Je besser man spielte, umso mehr Gegner schickte der Rechner. Gewinnen war im Prinzip unmöglich. So wie heute im Kleinkrieg gegen die Schnüffler.

Daten mit einfacher Technik verschlüsseln? Routinemäßig können Geheimdienste laut Snowden auch Verschlüsselungsverfahren knacken, die heute Standard sind, die Millionen Nutzer auf der ganzen Welt etwa zum Online-Shopping oder für Verbindungen mit ihrer Bank nutzen. Wer dagegen aufwendig verschlüsselt, also wie ein Hacker arbeitet, der gerät erst recht ins Visier der Dienste.

Die Politik muss die Freiheit garantieren

Sicherheit kann auch nicht länger gekauft werden. Firmen, die Verschlüsselungstechnik herstellen, kooperieren mit den Geheimdiensten, manche Produkte enthalten Schlupflöcher, damit die Dienste eben doch lauschen können, weil die Firmen mit den Behörden zusammenarbeiten. Und Abstinenz vom Netz, wie sie jetzt von einigen Kritikern empfohlen wird, kann nicht ernsthaft die Lösung sein. Das Netz hat das Leben sehr vieler Menschen, die daran teilhaben, vereinfacht, beschleunigt, verbessert.

Kurzum, weder mit Geld noch mit Technik ist der massiven Überwachung zu entkommen. Der Nutzer ist, auf sich gestellt, machtlos. Dieses Problem kann nur gemeinschaftlich gelöst werden, die Gesellschaft muss für ihre Freiheit eintreten, die Politik muss sie garantieren. Das mag, bei einem grenzüberschreitenden Konstrukt wie dem Netz nach einer kaum realisierbaren Phantasie klingen. Dennoch ist es die einzige Lösung, wenn die Nutzer nicht in einem überwachten Land leben möchten.

Doch die Bundesregierung, die entsprechende Gesetze auf den Weg bringen könnte, ist mit Kleinreden und Ablenkungsmanövern beschäftigt. Und die Kanzlerin spricht im Wahlkampf von E-Mails, die "von Hessen nach Niedersachsen" geschickt werden, als könnte man Daten im Internet wie einen Brief in Deutschland kontrollieren. Der Rest ist Abwiegeln und die Zusicherung, es ginge bei den Geheimdienstprogrammen um den Schutz deutscher Soldaten und Bürger vor Terroristen.

Wenn es tatsächlich darum ginge, wären Ermittlungen der richtige und unbedingt unterstützenswerte Weg. Wenn aber ganze Gesellschaften potenziell ausgeforscht werden, stellt sich die Frage: In welchem Staat wollen wir leben und was für eine digitale Kultur wächst in so einer Gemeinschaft?

Wie groß die Einschüchterung der Bürger bereits heute ist, sieht man deutlich an den Kommentaren zum neuen iPhone von Apple im Netz. Es soll anstelle eines PIN-Codes künftig mit einem Fingerabdruck entsperrt werden. Was noch vor Monaten höchstens einige Datenschützer beunruhigt hätte, hält heute Tausende davon ab, das Gerät zu kaufen. Aus gutem Grund.

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