Musikvideos im Netz:Einmal durchladen

Das Videoportal YouTube ist ziemlich illegal. Aber für Musikfans unverzichtbar. Nicht nur das: Es ist eine Form des Protests gegen die Blödheit des Fernsehens.

Steve Lake

Mitternacht. Ich stolpere vom Computer fort und fühle mich wieder wie Ray Miland in "Der Mann mit den Röntgenaugen". Habe eine Unmenge neuer Infos im Kopf und fürchterliches Kopfweh. Diese Augen haben zu viel gesehen! Es ist unmöglich, mit YouTube Schritt zu halten. Man stelle sich vor: Täglich werden bis zu Hundert Millionen Videos auf dieser Website angeschaut, durchschnittlich 2,5 Milliarden Videos pro Monat. Außerdem: Bis zu siebzigtausend Videoclips werden täglich geladen. Auch wenn wir uns mit den schärfsten Kritikern einig wären, die nach wie vor 99 Prozent der gezeigten Videos jeden ästhetischen Wert absprechen, so bleibt immer noch ein stetig wachsendes, irrwitziges Kontingent "lohnender" Videos auf YouTube.

Musikvideos im Netz: YouTube: Ein schier unendlich großes Archiv, von Fans gestaltet. Doch Besitzer Google haben die Copyrightverstöße einen Sack voll Probleme eingehandelt.

YouTube: Ein schier unendlich großes Archiv, von Fans gestaltet. Doch Besitzer Google haben die Copyrightverstöße einen Sack voll Probleme eingehandelt.

(Foto: Foto: dpa)

Bezieht man die anderen Videoportale ein, die wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, seit drei ehemalige Angestellte des Bezahlsystems PayPal YouTube im Mai 2005 gestartet hatten - Portale wie Daily Motion, DimeADozen, MyVideo, Clipfish und Dutzende andere - so türmt sich ein Tsunami "freier" Videos vor uns auf, mit unglaublichen Qualitätsschwankungen, natürlich.

Der All-American-Spirit, der die Home Movies von YouTube prägt, ist dabei nicht immer leicht erträglich: "Hi, wir möchten Ihnen unser neues Baby/Hundchen/Kätzchen/Fischlein vorstellen (nein, so was Süßes!?). Erleben Sie, wie Granny eine Birne aus der Fassung schraubt oder einen Kuchen bäckt, schauen Sie zu, wie drei Teenage Girls in Slip und BH zu Britney Spears CDs posieren oder wie sich zwei Schuljungs an einer Bushaltestelle eine handfeste Schlägerei liefern." Tja, wie viel Einsamkeit kann man aushalten?

Dagegen lohnt sich oft das Dokumentations-Archiv von YouTube, mit seinem Angebot an politischen Kommentaren aus den Medien und aus Amateurinterviews von den Krisenzentren der Welt. Und hat man erst mal eine hinreichende Zahl an amerikanischen Comedies auf YouTube durchgeackert, wird man auch Material mit ein bisschen Biss finden, George Carlin über Religion vielleicht, oder Lenny Bruce, 1965 live in San Francisco. Auch der Humor hat seine Moden, der Skeptizismus dagegen ist zeitlos und notwendig.

Die Bühne bebt

Doch für mich sind es die Musikclips, die mich am meisten fesseln. Ich habe also während der vergangenen Abende Nusrat Fateh Ali Khan gesehen, wie er seine "Sufi Songs of Devotion" mit der Inbrunst eines Opernsängers zelebrierte. Ich habe Howling Wolf beobachtet, wie er bei "Smokestack Lightnin" mit dem Basso profundo seines Blues die Bühne zum Beben brachte.

Ich habe Pierre Boulez gesehen, wie er Messiaen mit den präzisen Handbewegungen eines Verkehrspolizisten dirigierte. Habe Sonny Rollins mit Leonard Cohen beobachtet beim Jamming einer total unlogischen Version von Cohens "Who By Fire".

Ich habe den Quicksilver Messenger Service gesehen - die einzige der klassischen Psychedelic Bands von San Francisco, die nie den Sprung nach Europa schaffte - wie sie irgendwo in einem Park eine verrückte Version von Bo Diddleys "Mona" aufführten. Ich habe mir Filme angesehen über Mark E. Smith und The Fall, Richard Thompson, Sun Ra, die Yardbirds, Glenn Gould, Segovia, Indian Raga.

Ich habe die Ikonen der britischen Free Improvisation, Derek Bailey und John Stevens, bei einer Jam Session in einem Pub in Südlondon gesehen, Ornette Coleman und seine "harmolodische" Band Prime Time in Mailand, den Baumwollpflücker und Vorläufer der sogenannten "Outlaw" Country-Music, Billy Joe Shaver, wie er in Nashville Waylon Jennings Tribut zollte, Jefferson Airplane, die auf einem Dach in New York vor Jean-Luc Godards Kameras auftraten, außerdem zog ich mir haufenweise Bob-Dylan-Videos rein und aufregendes Charlie-Parker-Filmmaterial, von dessen Existenz ich bis dahin keine Ahnung hatte, ich sah Syd Barretts Pink Floyd während einer Probe, die splitternackte Cellistin Charlotte Moorman, die die Fluxus-Stücke von Nam June Paik aufführte, einen korrekt gekleideten Phil Ochs, der Protest-Folk spielte ("I Aint Marching Any More" - höchste Zeit, das neu aufzulegen), die Beatles, die Yoko Onos durchdringende Schreie mit schrillem Feedback unterlegten, Nick Cave und die Birthday Party, die ihr Publikum und sich selbst mitten in der erlöschenden Glut des Punkrock bekämpften, John Cage, der die Stille im Studio erforschte, und John Eliot Gardiner, der mit den English Baroque Soloists nach historischen Vorbildern Bach aufführte.

Und so weiter und so fort, die Liste hört nicht auf.Die Botschaft: Du musst dich nicht mit dem Mittelmaß zufrieden geben, das gerade Mode ist.

YouTube ist Protest

Dieses außergewöhnliche Archiv, gestaltet von Fans, die einfach nur ihre Vorlieben und ihre Begeisterung teilen, sollte das Fernsehen wachrütteln. MTV? Ach was! Von einem "Musik-Fernsehkanal", der die Hoffnung auf Einschaltquoten mit Programmen fördert wie "Date My Mom" und "Pimp My Ride", ist nichts mehr zu erwarten. Nein, YouTube hat den Fehdehandschuh geworfen, indem es die sogenannten Kultursender herausfordert, die in diesem Teil der Welt 3sat, Arte, BR-Alpha heißen.

Sieht man das Angebot an Filmvideos, das hier und jetzt für jedermann mit Internetanschluss gratis zugänglich ist, ist es schwer verständlich, weshalb "gediegene" Musikprogramme so blutleer, unberechenbar oder schlicht langweilig sind. Wir sollten YouTube also als eine Form des Protests betrachten. Und als eine Vision des Musikfernsehens, eine aufgeschlossene vielstimmige Video-Jukebox, die der Gegenwart wie auch der Vergangenheit ihren Platz einräumt und die die Abgrenzung zwischen E- und U-Musik lächerlich findet.

Soweit die gute Nachricht.

Die weniger erfreuliche ist, dass dieses reiche Archiv dadurch realisiert wurde, dass es sich rücksichtslos über Copyrightbestimmungen hinwegsetzt. Denn das Phänomen YouTube funktioniert durch einen Akt des zivilen Ungehorsams auf einer nie dagewesenen Ebene, mit Nutzern, die in die Millionen gehen und den Anspruch erheben, die Rechte am Werk anderer zu besitzen.

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Das Copyright gilt

Wer ein Video auf YouTube lädt, agiert als Copyright-Inhaber dieses Materials: Wer vom Eigentümer nicht autorisiert ist, sein Werk zu verbreiten, bricht das Gesetz. Viele glauben inzwischen, wenn sie während eines Konzerts ihr Mobiltelefon hochheben, seien sie Filmemacher mit besonderen Rechten. Das ist nicht so.

YouTube informiert uns über vieles, man muss nur ihr FAQ (Verzeichnis häufig gestellter Fragen) lesen. Das Mantra des Copyrights bleibt, was es ist: Egal, wie lang oder kurz der Clip oder wie genau er zu YouTube kam, ob er vom Kabel kopiert wurde, als Video vom Fernsehschirm kommt oder von einer anderen Website heruntergeladen ist: er unterliegt in jedem Fall dem Copyright. Egal, ob man den Eigentümer/Autor/Liedermacher nennt: Es gilt das Copyright. Auch wenn mit dem Video nichts verdient wird: Das Copyright gilt. Egal, ob das Video einen Copyright-Vermerk enthält: Das Copyright gilt. Egal, ob ähnliche Videos bei YouTube erscheinen: Das Copyright gilt. Egal, ob man ein Video aus kurzen Clips herstellt, deren Inhalte dem Copyright unterliegen, egal, ob man den Inhalt komprimiert: Das Copyright besteht.

Und was das Video selbst angeht: Der Darsteller kontrolliert das Recht, sein Bild auf einem Video zu verwenden, der Liedermacher hat die Rechte über die Aufführung des Songs, am Drehort ist Filmen ohne Genehmigung untersagt, so ist das.

Nun gut - über all das informiert YouTube. Wenn aber angemessenes Handeln angesagt ist, reagiert man dort auffallend langsam. Und außerdem gibt es eine Belegschaft von nur 67 Leuten, kaum genug, um 70 000 neue Videos pro Tag zu kontrollieren. Doch dass sie ihre Hände immer noch in Unschuld waschen - "wir sind schließlich nur ein Internet-Dienstleister" -, überzeugt nicht. Auch wenn sie andere nicht zur aktiven Verletzung des Copyrights veranlassen (eine Anklage, die einmal gegen die Audio-Datei-Tauschbörsen Napster und Grokster erhoben wurde), scheinen sie tatsächlich bereit zu sein, unautorisiertes Material so lange zu akzeptieren, bis jemand ein Warnsignal ertönen lässt. Zwischen den Fans wird kein Geld verschoben.

Ein Sack voll Probleme für Google

Doch für die Gründer von YouTube, Chad Hurley, Steve Chen und Jawed Karim, haben sich "Gratis"-Videos als höchst lukrativ erwiesen. Im Oktober 2006 verkauften sie ihre einjährige Firma an Google. Für 1,65 Milliarden Dollar.

Das war das größte Geschäft der Google-Geschichte, die neue Gattung von Netz-Chefs und E-Commerce-Betreibern schnappte nach Luft. Insider- Blogs munkelten, dass sich Google einen Sack voller Probleme eingehandelt habe. Da sie Googles ungeheuren Reichtum kennen, meinten sie, jeder werde nun Strafanzeige stellen. Ein anderer Report wollte wissen, dass Google eine 200-Millionen-Dollar-Reserve angelegt habe, um anstehende Klagen gegen Copyright-Verstöße zu bekämpfen oder abzuweisen. Wieder ein anderer Bericht wusste, dass diese 200 Millionen sehr vorsichtig geschätzt waren.

Inzwischen haben die Chefs der Major Labels ihre Ansicht über das YouTube-Phänomen geändert. Folgendes Szenario ist nun gebräuchlich: Die Rechtsabteilung der Plattenfirma X unternimmt Schritte gegen YouTube, weil die ein copyrightpflichtiges Video ohne Freigabe hochgeladen haben. Dabei erfahren sie, dass dieser Upload von den eigenen Kollegen aus der PR-Abteilung veranlasst wurde. So ist das: Was für den einen "Verletzung von Rechten an intellektuellem Eigentum" bedeutet, ist für den anderen "nützliche Werbung".

(Der Aspekt der Werbung darf nicht unterschätzt werden: Mein eigener hemmungsloser Kauf von CDs ist nicht etwa weniger geworden - er hat zugenommen, seit mich der YouTube-Virus erfasst hat. Ich sehe einen Clip, auf dem MC5 1970 seinen Agit-Rock in Detroit spielt, wechsle schnell rüber zu Amazon.de, kaufe mit einem einzigen Mausklick die 6-CD-Box "Purity Accuracy" und sause zum YouTube-Programm zurück. Gesamtdauer der Transaktion: 120 Sekunden!)

Der DJ als "aktiver Plagiator"

Copyright-Fragen haben eine neue Bedeutung erhalten: In den späten neunziger Jahren hat die Remix-Kultur den Rechten des Künstlers, sein eigenes Werk zu kontrollieren, einen Schlag versetzt. Der DJ war, um mit DJ Spooky zu sprechen, ein "aktiver Plagiator", "der alles von unten nach oben kehrt", wobei Spooky - wie ich meine: sehr arrogant - behauptete, dass "im 21. Jahrhundert alles allgemein zugänglich ist".

So dachten auch viele Hip-Hopper und kümmerten sich nicht darum, die Rechte an den von ihnen verwendeten Ausschnitten zu klären. Musiker und Komponisten wurden ausgeplündert. Piraterie galt als cool. Paradoxerweise hatten es Copyright-Anwälte so gut wie nie: Es gab mehr juristische Auseinandersetzungen denn je im Musikgeschäft, das Geld floss. Die Piraten und die Rechtsvertreter trafen sich in einem symbiotischen Tanz, die Autoren und die geistigen Eigentümer waren die Mauerblümchen - sie konnten nur dastehen und zusehen.

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Napster und Grokster und nach ihnen YouTube und MySpace haben die Aneignungspraxis fortgesetzt, die Musikindustrie versucht zu klären, wie sie von diesem Trend profitieren kann. Die Universal Music Group verklagte MySpace mit harschen Worten: "Die Basis von MySpace ist ihr sogenannter vom Nutzer entwickelter Inhalt. Doch auf einen Großteil dieses Inhalts trifft das keineswegs zu. Im Gegenteil, wir haben es hier mit einem ,vom Nutzer gestohlenen' intellektuellen Besitz anderer zu tun, und MySpace partizipiert bereitwillig an diesem Diebstahl."

Und doch erklärte sich Universal vergangenen Oktober bereit, an YouTube Material weiterzugeben, ebenso wie Warner, Sony und NBC. Der CBS News-Präsident sagte dazu: "Je mehr Aufsehen durch Clips erzeugt wird, desto besser für uns - das ist heute unsere Ansicht, und rückblickend hätten wir vielleicht dieses Aufsehen und die erzielte öffentliche Aufmerksamkeit positiver sehen sollen, anstatt engstirnig auf einer Gegenposition zu beharren." Komplizierte Verträge sind unterzeichnet worden.

Im Gegenzug zu einem nicht näher bekannten Anteil an den Werbeeinnahmen von Google/YouTube stellt Warner seitdem auch seine Musik für YouTube-Nutzer zur Verfügung, die sie in ihre selbstproduzierten Filme einbringen können. Wenn das keinen Freibrief bedeutet, denn was sollte einen skrupellosen YouTube-Videoproduzenten daran hindern, Warners Musik zur Werbung für üble politische Programme, religiösen Fundamentalismus oder rassistische Tiraden zu nutzen?

Das Spiel um die Legalität

Mittlerweile setzt sich das Spiel um die Legalität an allen Fronten fort. YouTube wird von einem Hersteller für Industrieerzeugnisse namens Utube verklagt, weil dessen Website explodiert, wenn jeden Monat Millionen Besucher am falschen Platz landen.

Und YouTube selbst droht mit Maßnahmen gegen das Weblog TechCrunch, dessen Programm zum Herunterladen von Videos es ermöglicht, YouTube Videos auf die Festplatte zu laden. Streaming soll sein, Herunterladen darf nicht sein, so wenigstens lautet das Gebot des Monats.

Agiert YouTube raffinierter, wenn es sich bei der Musikindustrie einschmeichelt? Wahrscheinlich. Vergangenen Monat kündigte YouTube-Mitbegründer Chad Hurley in Davos an, dass er Anzeigenerlöse mit Nutzern teilen wolle. Kein Mensch weiß bis jetzt, was zum Teufel das bedeutet. Will er die Schwarzhändler bezahlen?

Nun ja: Wenigstens kann einen die ausgiebige Betrachtung von Copyright-Fragen zurückführen zu den Tröstungen der Musik. Ich gehe zur YouTube-Suchmaschine und gebe den Namen Laura Nyro ein. Da ist sie ja, die verlorene Seele, sie singt "Poverty Train" auf dem Monterey Pop Festival von 1967. Welch schmerzliche Schönheit liegt in ihrer Stimme. Fantastisch, elektrisierend.

Was ist nun das größere Verbrechen? Zu vergessen, dass diese Stimme existiert hat oder sie - meiner Meinung nach: illegal - zu verbreiten? Die arme Laura ist unter der Erde, und dennoch ist es wichtig, dass man weiterhin sehen und hören kann, wie sie sich das Herz aus dem Leib singt: als eine Geste der Verehrung, als Quelle der Inspiration.

Bis sich Verhältnisse zum Positiveren wenden, zum Beispiel im legalen deutschen Fernsehprogramm, werden wir mit YouTube auskommen müssen.

Übersetzung: Birgit Weidinger

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