Multimedia-Buch:Gutenberg mit Gates versöhnt

Ein Werk mit Netz-Dimensionen: Jacques Attali legt Frankreichs erstes Hyperbuch vor. Strichcodes verlinken den Leser mit Musik, Videos und Chats.

Jeanne Rubner

Ohne die schreiend rote Banderole, die das "erste Hyperbuch" ankündigt, würde wohl der weiße, broschierte Band "Le sens des choses" (Der Sinn der Dinge) aus der Masse von Frankreichs Neuerscheinungen kaum hervorstechen. 650 Titel sind zur rentrée, dem Schulanfang, herausgekommen, der traditionell die intellektuelle Trägheit des Sommers beendet.

Multimedia-Buch: Internetseite zum "Hyperlivre": Neues Format mit Kinderkrankheiten

Internetseite zum "Hyperlivre": Neues Format mit Kinderkrankheiten

(Foto: Screenshot: Orange-innovation.tv)

Da kann so ein Band leicht untergehen, zumal Autor Jacques Attali, Frankreichs Nationalprophet, dafür bekannt ist, Bücher am Fließband zu produzieren. Das erste Hyperbuch aber macht neugierig: Es besteht aus 300 Seiten, angereichert um die "Hyper"-Dimension des Netzes, das Musik, Videos und Chats bietet. Papier und Internet. Findet hier vielleicht die oft beschworene Versöhnung von Gutenberg und Gates statt?

Das Geheimnis des Hyperbuches verbirgt sich weniger in den Zukunftsszenarien diverser Politiker, Künstler und Wissenschaftler, mit denen Attali im Laufe der vergangenen Jahre Radiointerviews führte, die nun im Buch kondensiert erscheinen. Diese Exkurse über Religion, Musik oder Gemeinwesen der Zukunft sind hübsche Aperçus - mehr aber nicht.

Interessant sind jedoch die daumennagelgroßen, schwarz-weiß gescheckten Quadrate. Wer im Hyperbuch blättert, wird sie schnell entdecken, diese "Flashcodes", Frankreichs Variante des Strichcodes. Sie verschlüsseln Webadressen - und per Handy kann der Leser den Weg ins Internet finden, ein Gerät mit entsprechendem Zugang vorausgesetzt.

Mit dem Strichcode zur Leserdiskussion

Beim Lesen über die Zukunft der Musik kann man sich dann etwa einen Ausschnitt von Mozarts "Don Giovanni" anhören, das Kapitel über den Esprit Frankreichs ist angereichert mit Statistiken über die zehn meistgesprochenen Sprachen und meistbesuchten Orte der Republik. Hier ein rezitiertes Gedicht von Verlaine, dort ein paar Daten über berufstätige Frauen, dann die Einladung, mit anderen Lesern online zu diskutieren.

Die Flashcodes sind elektronische Fußnoten, sie erinnern an die Quellenangaben einer Wikipedia-Seite. Das Anklicken ist ein wenig mühsamer, weil man eben ein Papierbuch in der Hand hält.

Nun hätte der Verlag sicher auch eine CD beilegen können - Vorteil der Codes allerdings sind Aktualität und Interaktivität: Webinhalte lassen sich ständig verbessern und erneuern, außerdem können die Leser in Foren diskutieren. Im Handyparadies Japan werden solche zweidimensionale Codes längst auf Reklametafeln und in Magazinen benutzt, um die Werbewelt zu erweitern.

Zugangscode per SMS

Noch plagen das Projekt technische Kinderkrankheiten. So sind die elektronischen Zusätze des Hyperbuchs nur in Frankreich lesbar - als Reiselektüre außerhalb des Landes taugt "Les sens des choses" nicht. Zudem kann nur ein Viertel aller französischen Handys die Flashcodes lesen, iPhones gehören noch nicht dazu, demnächst soll es jedoch auch für sie Software geben.

Alle anderen Handybesitzer müssen auf vorsintflutlichem Wege eine SMS mit der Seitenzahl schicken, als Antwort erhalten sie die zugehörige URL-Adresse. Und wer zu den elektronisch Zurückgebliebenen gehört, die kein internetfähiges Handy haben, muss sich ganz altmodisch zu seinem Computer begeben und den Link eintippen, um in die elektronische Dimension einzutauchen.

All diesen Unzulänglichkeiten lässt sich technisch sicher beikommen. Viel wichtiger ist deshalb die Frage, ob das Hyperbuch eine prinzipiell neue Dimension eröffnet. Kann es den Trend zu Kindle und anderen elektronischen Tafeln brechen und Buchhändler glücklich machen? Wohl kaum. Man muss sich nur vorstellen, "Le sens des choses" sei als E-Book-Variante verfügbar.

Dann könnte man, durch einen einfachen Klick, die Zusatzinformationen lesen statt sie aufwendig aufs Handy laden zu müssen. Das richtige Medium für das - durchaus interessante - Konzept des Hyperbuchs ist wohl, so ironisch es klingen mag, die elektronische Welt, nicht das Papier.

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