Literatur:Cryptonomicon

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Nur einen Steinwurf von der Gegenwart entfernt. Neal Stephenson ist Autor, Kryptograph und genialer Geschichtenerzähler des Cyberspace.

Stefan Becht

(SZ vom 1.9.2001) - Warum hat es eigentlich so schrecklich lange gedauert mit dem neuen Buch des amerikanischen Autors Neal Stephenson? Die Frage ist einfach zu beantworten: Es umfasst 918 Seiten im Original, 1200 in der deutschen Übersetzung. Titel: "Cryptonomicon". Und dieser Mann schreibt alles mit der Hand, mit dem Füllfederhalter auf Papier.

Den Durchblick bewahren, das will jeder in Neal Stephensons Roman "Cryptonomicon". Es geht um Kryptographie, um die Verschlüsselung von Informationen und Daten, besonders solchen, die über weite Strecken weitergegeben werden. (Foto: Buchcover: Goldmann)

Zu Beginn des Jahres 1996 unterhielt sich der damalige Chefredakteur der amerikanischen Zeitschrift Wired, Kevin Kelly, mit dem Science-Fiction-Schriftsteller Neal Stephenson. Stephenson zählt, wie Douglas Coupland, Bruce Sterling, Steven Levy, Stewart Brand, William Gibson und Nicholas Negroponte, zu den regelmäßigen Autoren des Blattes. Wieder einmal sollte es darum gehen, den Leser zu "überraschen", oder wie Louis Rossetto, der Gründer von Wired, es so schön formuliert hatte: "Amuse us". Also eine Geschichte aus einer Perspektive zu erzählen, die neu und ungewohnt war, ein Prinzip, mit dem Wired schon Maßstäbe gesetzt hatte.

Ob er sich, fragte Kelly Neal Stephenson, vorstellen könne, als SF-Autor eine journalistische Geschichte über die gerade stattfindende Verlegung des "Fiberoptic Link Around the Globe", den FLAG, zu schreiben? Über ein 28.000 Kilometer langes, 1,5 Milliarden Dollar teures, in England beginnendes, durch den Suez-Kanal führendes und in Japan endendes Untersee-Glasfaser-Kabel, das längste der Welt, das vornehmlich für das Internet eingesetzt wird? Stephenson konnte, tauschte im Sommer 1996 seinen Füllfederhalter gegen ein modernes GPS-Gerät und seine Jeans gegen Shorts ein und machte sich auf nach Malaysia, seiner ersten Station, um die Verlegungsarbeiten von FLAG zu beobachten.

Mit dem Satz "Information moves, or we move to it", begann dann in der Dezember Ausgabe 1996 von Wired Stephensons 50-seitige Titel-Reportage über FLAG, angereichert mit technischen Details, Eindrücken, Impressionen, Fotos und historischen Geschichten über die Verkabelung der Welt seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts. Der "Hacker Tourist", wie Stephenson sich selbst bezeichnete, war in Malaysia, Thailand, Hongkong, Japan, Ägypten und England unterwegs gewesen, und was er unter der Schlagzeile "Mother Earth Mother Board" ablieferte, ist bis heute eine der spannendsten Geschichten über die Vernetzung und die damit verbundene Digitalisierung unseres Lebens. Eines der Glanzlichter in Wired, der Zeitschrift, die das digitale Lebensgefühl, das "being digital", praktisch im Alleingang popularisierte, bevor sie - unter der Ägide des Großverlags Condé Nast - zu einer "Techno-Vogue" wurde.

Stephensons FLAG-Stück fand nicht nur in Deutschland Nacherzähler. Auch ihm, gab Stephenson später zu, habe die Recherche für sein neues Buch sehr genützt. Um was es darin gehe, ob es denn eher etwas Technisch-reportagenhaftes oder ein "richtiger Stephenson" werden würde, fragte ein Chatter. "Ein richtiger Stephenson", war die Antwort, aber mehr dürfe er nicht verraten. Doch was ist ein "richtiger Stephenson"?

Zuerst einmal Kult. Mit dem perfekten Gespür für das richtige Thema zur richtigen Zeit setzt der Physiker und Geograph, der aus einer Akademikerfamilie stammt und in Illinois und Iowa aufgewachsen ist, seit den Neunzigerjahren neue Maßstäbe in der SF-Literatur. In dem 1992 erschienen "Snow Crash" lässt er seinen Helden, Hiro Protagonist, der für den Cosa-Nostra-Pizza-Zustelldienst arbeitet und einer der letzten unabhängigen Hacker seiner Zeit ist, in Gestalt einer künstlichen Persönlichkeit in den Cyberspace eintauchen und die Welt vor der Infokalypse retten. Das Buch liefert eine Fülle von Referenzen an die Gilde der Fantasy-Rollenspieler. Virtuelle Realität und "echte" Realität mischen sich nahtlos. Die später von der Sozialwissenschaftlerin Sherry Turkle (MIT) getroffene Aussage "Ich bin viele" nimmt Neal Stephenson erzählerisch vorweg. Schlagartig wurde er bekannt - der Cyberspace hatte einen neuen, genialen Fürsprecher und Geschichtenerzähler.

Spätestens mit "Diamond Age oder Die illustrierte Fibel für die junge Dame" (1995) legte er ein literarisches Meisterwerk vor und entfernte sich - genau wie die anderen beiden Ikonen am Himmel der SF-Literatur, William Gibson und Bruce Sterling - vom angestammten Genre. Sie alle sind längst in der Gegenwart angekommen, auch wenn sie weiterhin von ihren Verlagshäusern als SF-Autoren vermarktet werden. Ihre Geschichten sind, wie William Gibson und Bruce Sterling einmal sagten, "nur noch einen Steinwurf von der Gegenwart entfernt, greifbar, wenn wir die Augen öffnen" und von der Gattung her sind sie wohl am besten mit dem Begriff Gegenwartsliteratur charakterisiert.

Hauptdarsteller in "Diamond Age" ist ein Buch, besser gesagt: eine elektronische Fibel. Zufällig fällt dem Mädchen Nell diese Fibel in die Hände. Eine Fibel, die das gesamte Wissen der Welt in sich trägt, die sprechen kann und sich auf den jeweiligen Benutzer einstellt. Nell wächst mit der Fibel heran und löscht ihren Wissensdurst im Zeitalter der Nanotechnologie, in dem alles an der nächsten Ecke in Sekunden erzeugt werden kann. Im "Diamond Age" ist die Gesellschaft in Volksstämme aufgeteilt: Einige herrschen, die anderen dienen. Was Nell mit der und durch die Fibel lernt, erschüttert schließlich das gesamte Gesellschaftssystem. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Mit ihrem eigenen Stamm - auch wieder eine starke Metapher aus der Computer- und Netzkultur - revolutioniert sie die Werte und Regeln der Gesellschaft.

Stephenson hat seine Geschichte übers Erwachsenwerden, übers Lernen und Verstehen, über die tiefe Zuneigung von Menschen zueinander, über das Brückenbauen zwischen Rassen, Völkern und Religionen, über die Liebe in einen nano-technologischen Kontext gestellt, der die Hacker-Gemeinde erst irritierte und schließlich begeisterte. Village Voice kürte den heute 42-Jährigen dafür zum "Quentin Tarantino des Cyberpunks", und er wurde mit der höchsten SF-Auszeichnung bedacht, dem "Hugo Award".

So auch "Cryptonomicon". Mehr als zwei Jahre mussten die Leser sich gedulden, bis der Wälzer ins Deutsche übersetzt war. Auch das Blättern und Zwischendurchlesen in der amerikanischen Ausgabe half da nicht viel, denn es wimmelt darin von komplizierten mathematischen Formeln, Unix-Befehlen, einem Perl-Skript und dem algorithmischen Verschlüsselungsprogramm "Solitaire" von Bruce Schneider. Es geht um Kryptographie, um die Verschlüsselung von Informationen und Daten, besonders solchen, die über weite Strecken weitergegeben werden. Dabei siedelt der Unix- und Linux-Fan Stephenson seine Handlung auf zwei Zeitebenen an: einmal im Zweiten Weltkrieg, währenddessen die Verschlüsselungskunst eine bis dahin nicht gekannten Blüte erreichte. Und dann in der Jetzt-Zeit, in der es das weltweite Leitungsnetz Internet gibt, das aber noch Lücken und jede Menge Unsicherheiten aufweist. Natürlich stellen diese Kabel, da sie für das Internet wie "Nervenstränge" fungieren, auch die eigentliche Achillesferse dar - sie sind jederzeit verletzbar oder von außen anzugreifen.

In "Cryptonomicon" laufen beide Zeitstränge aufeinander zu. Neal Stephenson jongliert mit alten und neuen Metaphern: Mit "Gold" als der wertvollsten, komprimiertesten Währung, die es gibt; mit Information als (Börsen-)Geldwert, die übermittelt, decodiert und verstanden werden möchte; mit einer "Krypta" als Hort der freien Information, die sich jeder Regulierung entzieht; mit einem "Tunnel-System" als komplexem Ort des Verborgenen, der seine Erbauer gleich mit begraben soll; mit der Göttin Athene als Sinnbild seiner Weltsicht und den immer wiederkehrenden Begriffen "ein-" und "ausgraben" (null und eins) für die heutige Digitalität und den Umgang mit Daten.

Bevölkert wird diese Welt mit Figuren wie dem genialischen Mathematiker und Kryptoanalytiker Lawrence Waterhouse, der aus einer Orgel den ersten Computer macht, mit Alan Turing, seinem nicht weniger beschlagener Arbeitskollegen, dem durchgeknallten Corporal Bobby Shaftoe, der die alliierte Verschleierungsabteilung 2702 anführt, dem undurchsichtigen Prediger Enoch Root, dem Hacker und Unix-Spezialisten Randy Waterhouse, seinem Freund und Firmenmitinhaber Avi von der "Epiphyte Corporation", dem japanischen Tunnelgräber und Überlebenskünstler Goto Dengo, dem deutschen U-Boot-Kapitän Bischoff und dem brutalsten Zahnarzt der Gegenwart, Spitzname "Der Dentist".

Es gibt zwei Schlüsselstellen in "Cryptonomicon". In der einen vergräbt Alan Turing zwei Silberbarren aus Angst vor einer Invasion Englands. Anschließend verschlüsselt er die Beschreibung, wo sie vergraben sind, so kompliziert, dass er die Barren nicht mehr wiederfindet.Und dann gibt es noch die Szene, in der der gealterte Enoch Root im Gefängnis von Manila auf den Computerfreak Randy Waterhouse trifft. In einem Nachtgespräch versucht Root seine Sicht der Welt zu erklären. "Gut", sagt Randy, "Sie wollen also eindeutig darauf hinaus, dass es ein universelles Muster von Ereignissen geben muss, das, nachdem es durch die Sinnesorgane und Nervenstränge primitiver, abergläubischer Menschen gefiltert wurde, in deren Bewusstsein geistige Repräsentationen entstehen lässt, die sie mit Göttern, Helden etc. gleichsetzen." - "Ja. Und die können über verschiedene Kulturen hinweg erkannt werden." - "Sie wollen mir also weismachen, Enoch, dass diese Götteralle genau deswegen gewisse Dinge gemeinsam haben, weil die äußere Realität, die sie erzeugt hat, über die Kulturen hinweg übereinstimmend und universell ist." - "Genau."

Wahrscheinlich hat Stephenson mit "Cryptonomicon" sein literarisches Sinnbild und Leitmotiv schlechthin gefunden: Eingraben - ausgraben, ver- und entschlüsseln, codieren - entcodieren, verschleiern - entschleiern, ver- und entzaubern, den Sinn hinter den Zeichen, in den Gesichtern, Gefühlen, Bildern, Metaphern und Lebensweisheiten entdecken, ihn auffächern und uns näher bringen.

Aus Amerika ist zu hören, der Mann, den Bruce Sterling als "den einzigen wirklichen Erneuerer auf dem Gebiet der modernen Science-Fiction" bezeichnet, sei gerade dabei, sein neues Werk "Quicksilver" abzuschließen. Es spielt 300 Jahre vor "Cryptonomicon" und, um es mal vorsichtig zu sagen, es "korrespondiert" mit ihm - ob auch im Umfang, das verrät er nicht.

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