Handyvideos:Hochformat ist für selbstverliebte Selfiegötter

Handyvideos: "Hochformat ist das neue Querformat", sagt der Rapper McFitti. Das mag stimmen, toll finden muss man den Trend zum Vertikalen aber nicht.

"Hochformat ist das neue Querformat", sagt der Rapper McFitti. Das mag stimmen, toll finden muss man den Trend zum Vertikalen aber nicht.

(Foto: DeichkindTV/Youtube)

Hochkant-Handyvideos liegen im Trend. Dabei sind sie ein kulturanthropologischer Frevel.

Von Bernd Graff

Wenn Menschen in einem abgedunkelten Raum zwei Lampen sehen, die abwechselnd blinken, dann sehen sie EIN Licht, das hin- und herspringt. Sie sehen nicht zwei Lichter, die sich beim Leuchten abwechseln. Dieser Wahrnehmungsirrtum ist jedoch eine Errungenschaft der Evolution. Denn für unsere Vorfahren in der Savanne, sowohl Jäger wie Gejagte, war es von immensem Vorteil, wenn sie die Bewegung eines Objektes, Beute oder Gefahr, antizipierten. Es war überlebenswichtig. Manchmal muss man eben die sensorische Wahrheit missverstehen, um dem Hirn einen Überblick durch Perzeption, durch die Interpretation von Wahrnehmung, zu verschaffen. Anders hätte unsere Spezies wohl nicht überlebt.

Wenn man durchs offene Gelände streift, möchte man Gefahr oder Beute möglichst früh sehen

Auch eine zweite Wahrnehmungspräferenz unserer Vorfahren aus der Savanne hat sich gehalten: Die horizontale Sichtweise ist uns von viel größerem Nutzen gewesen und uns auch heute immer noch viel sympathischer als die vertikale. Warum? Wenn man durchs offene Gelände streift, dann möchte man möglichst viel von dem Raum sehen können, in dem sich mutmaßlich befindet, was man jagen kann oder fürchten muss.

Außer vielleicht für die Vorfahren von Reinhold Messner war die Vertikale bis zur Erfindung der Flinte, mit der man Vögel jagen konnte, nahezu völlig uninteressant, sie hatte nichts zu bieten als Luft und Leere und schlechtes Wetter. Und darum sind unsere Augen eben horizontal angeordnet, weil sie so - Achtung! - einen breiten empirischen Horopter ermöglichen. Nun ist es raus!

Unser Horizont ist in Gefahr!

Horopter ist ein Kompositum aus den griechischen Wörtern hóros für Grenze und optēr für Späher. Gemeint ist das für Späher eben so wichtige, möglichst weite Gesichtsfeld bei beidäugigem Sehen. Beim erwachsenen Menschen sind das heute immer noch an die 180° in der Horizontalen, in der Vertikalen aber nur zirka 60° nach oben und 70° nach unten.

Warum muss man jetzt darüber reden? Weil dieser von uns seit Äonen optisch gepflegte und geschätzte Horizont JETZT in Gefahr ist. In Gefahr, von Smartphones mit Vertikalaufnahmen und -videos niederbebildert zu werden. Auf den Bildplattformen und im sozialen Netz sind sie auf dem Vormarsch. "Hochformat ist das neue Querformat", sagt der Rapper McFitti. Das mag stimmen, toll finden muss man es aber nicht.

Hochformate sind für Selfiegötter

Wenn man einmal die englischen Begriffe für hoch- und querformatige Bilder betrachtet, dann ist darin niedergelegt, was Menschen in welcher Ausrichtung sehen wollen: Hochformate heißen dort Portraits, Querformate Landscapes, also Porträt und Landschaft.

Damit ist alles gesagt: Hochformate sind für selbstverliebte Selfiegötter, die außer sich selbst nichts im Gesichtsfeld dulden, des Lebens ganze Breite aber liegt in der Quere. Und schaut man sich die Fülle der monothematischen Selfies an und vor allem, wo sie mutmaßlich aufgenommen worden sind, dann kann man andererseits auch froh sein, dass man nicht mehr von den oft peinlich möblierten Räumen zu sehen bekommt, in denen sich die Selfiejünger selbstporträtiert haben.

Richtig problematisch am Hochformat ist nun dies: Des Menschen Werkzeuge sind ja ergonomisch konstruiert. Vom Faustkeil über das Feuerzeug bis eben zu Fernseher und Kinoleinwand ist alles Werkzeug und jede Verrichtung auf den Körper und seine Fähigkeiten abgestimmt und optimiert. Und weil wir als horizontalwillige Menschen geboren werden, sind uns Bilder von Leben und Landschaften eben immer im Querformat, im Seitenverhältnis 4:3 oder 16:9, gezeigt worden. Mit speziellen Linsen- und Prismensystemen wie Cinemascope kann man das Bild sogar noch breiter auf die Leinwand projizieren, als es aufgenommen wurde.

Videos im Querformat herzustellen ist umständlicher, aber nicht unmöglich

Hochformate, also um 90° gedrehte Querformate, sind dagegen gut für Texte, Bücher, Schriftstücke - und eben für diese Selfies und Porträts. Dummerweise sind Smartphones, die mit Apps wie "Periscope" oder "Broadcast Me" zu Live-Übertragungen anregen, ebenfalls ergonomisch optimiert. Man muss sie mit einer Hand halten und bedienen können. Darum sind sie Hochkant-Geräte, höher als breit. Hochkantbilder und -videos sind damit schnell und bequem aufgenommen. Querformate damit herzustellen, mag etwas umständlicher sein, weil man die zweite Hand hinzunehmen muss; unmöglich ist es aber ausdrücklich nicht.

Wenn die vielen live-streamenden Menschen nicht beide Hände zum Filmen benutzen, dann entstehen den Horopter wie unsere Vorfahren gleichfalls missachtende Hochformatvideos, die für unsere Augen und die Wahrnehmungsgewohnheiten unserer gesamten Spezies ins Querformat gehört hätten. Denn wer Hochkant-Videos herstellt, bietet den Augen zu wenig an.

Und auf unseren 16:9-Displays und Bildschirmen, die solche verbockten Hochkantvideos dann darstellen müssen, sieht man deswegen hässliche schwarze Ränder oder verwässert verfremdete Ausschnitte aus demselben Video rechts und links - die ebenso hochkant ins Nichts streben. Es ist ein kulturanthropologischer Frevel allererster Güte! Das sind keine Augenweiden, sondern Augenstiegen, nicht Highway to Hell, sondern Schmalspur zum Himmel.

Im Netz hat sich der Protest organisiert. Vom "Vertical Video Syndrom" ist die Rede

Ja, es ist so schlimm, dass sich endlich Initiativen im Netz dagegen gebildet haben: "Say No To Vertical Videos" heißt eine, die völlig zu Recht von "VVS" spricht, von dem aus Bequemlichkeit ausgebildeten"Vertikal Video Syndrom". Dagegen will man gleich "eine Armee auf-" und die vermaledeiten Vertikal-Videos sowieso an den Pranger stellen. "Disneyland without guests" heißt so ein Hochkant-Fund, Disneyland ohne Besucher. Es zeigt eine leere Erlebniswelt, tatsächlich ohne Besucher, die man aber auch dann nicht sähe, wenn sie in Busladungen übervoll anwesend wären, eben weil das Video ja beengt bedrängt hochkant aufgenommen wurde und man so keinen Raumeindruck von dem Park bekommt.

Merke: Der Mensch liebt weite Räume, nicht die hohen. Und wenn man das Smartphone beim Filmen richtig hält, also quer, muss man einem bewegten Objekt auch nicht so wild hinterherschwenken. Die Filme wirken dann nicht nur räumlicher, auch weniger gehetzt, ausgeruhter, ruhiger. Wie gesagt: Eigentlich passen Smartphone und menschliche Wahrnehmung nicht zusammen. Des einen Ergonomie beleidigt die des anderen. Querformatige Bewegtbilder also muss man wollen. Aber wie hoffnungslos das wohl ist! Man möchte glatt zum Reinhold Messner werden!

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