Kriminalität im Internet:Virtuelle Schlammschlachten

Fahnder, Hobbydetektive und selbsternannte Rächer haben das World Wide Web zum größten Pranger der Geschichte gemacht - viele verstoßen dabei gegen Gesetze.

Marten Rolff und Rob Davies

Paul/45 will jetzt mehr von Katie. Es störe ihn nicht, dass sie erst zwölf sei, schreibt er in seiner Mail. Im Gegenteil - ,,ich mag es, mit Mädchen in deinem Alter zu chatten ... mmmhhh.'' Nun aber solle Katie endlich ausnutzen, dass ihre Eltern nicht zuhause sind und die Webcam anschalten - um ihm zu zeigen, was für ein ,,unanständiges'' Mädchen sie sei.

Um sie zu ermuntern, geht Paul/45 sogar noch weiter: Über die eigene Webcam sendet er Bilder an seine Chatpartnerin - und tappt so in die Falle. Anstelle der zwölfjährigen Katie erscheint auf seinem Bildschirm ein 24-jähriger Student, der einen Polizei-helm trägt. Darunter stehen die Worte: ,,Welcome to catchaperv.com'', was sich in etwa mit ,,Herzlich willkommen bei Schnapp dir den Perversen'' übersetzen ließe.

Wenig später wird Paul/45 sein Foto neben dem Chatprotokoll auf einer Internetseite wiederfinden - als neueste Trophäe in einer Galerie der Schande.

Die Idee, online auf Pädophilenjagd zu gehen, kam dem britischen Studenten Gary Urquhart wohl irgendwann im vergangenen Sommer. Er sei ,,frustriert'' gewesen über den ,,mangelnden Schutz von Minderjährigen im Netz'', schreibt der 24-Jährige, der aus Sicherheitsgründen keine Interviews gibt, auf seiner Seite catchaperv.com.

Seit September gibt er sich in Chats mal als 12-jährige Katie, mal als 13-jährige Lola aus, um Chatpartner mit eindeutigen Absichten zu ködern. Ziel der Aktion sei es, minderjährige Mädchen zu schützen, ,,die sich in Kontaktforen vielleicht Risiken aussetzen.''

Innerhalb von zwei Monaten hat Urquhart 33 angebliche ,,Perverse'' auf seiner Seite gesammelt - und damit in Großbritannien heftige Reaktionen ausgelöst: Während die einen dem 24-jährigen Studenten Gewalt androhten, verehren andere ihn längst als ,,Man of Justice'' - und catchaperv.com als Kult. Weltweit fand die Seite begeisterte Nachahmer, die ankündigten, nun nach Urquharts Vorbild ,,Perverse'' im Netz jagen zu wollen.

Sehr zum Ärger der britischen Behörden, die zwar kaum rechtliche Handhabe gegen Urquhart haben, sein höchst zweifelhaftes Detektivspiel aber ,,unverantwortlich'' nannten. Wobei moralische Bedenken gegen die Online-Selbstjustiz bei der Kritik offenbar eine untergeordnete Rolle spielen. Hobbydetektive könnten mit ihrem Tun ,,polizeiliche Ermittlungen gefährden oder polizeilich bekannte Pädophile zum Abtauchen zwingen'', sagte Jim Gamble der Süddeutschen Zeitung.

Der Leiter der britischen Organisation ,,Child Exploitation and Online Protection Centre (CEOP)'', die gegen Kindesmissbrauch im Netz vorgeht, befürchtet, dass auf diese Art ganze Gerichtsverfahren behindert werden könnten.

Mit ihren Vernunftsappellen dürften Ermittler wie Gamble allerdings auf verlorenem Posten stehen. Denn längst hat sich das World Wide Web zum größten Pranger in der Geschichte der Menschheit entwickelt. Niemals fand das mittelalterliche Instrument zur Bloßstellung Geächteter wirksamere und zweifelhaftere Anwendung.

Auf zahllosen Seiten werden vermeintliche oder wirkliche Übeltäter von selbsterklärten Rächern öffentlich zum Abschuss freigegeben; dabei bleibt das Feld der virtuellen Diffamierung durch kompromittierende Fotos oder Texte nicht nur Privatleuten und deren Feden überlassen. In Ländern, in denen ein lockerer Datenschutz größere Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte erlaubt, nutzen Sicherheitsbehörden, aber auch die Medien den Netz-Pranger schon lange offiziell für ihre Arbeit.

Virtuelle Schlammschlachten

Der Delinquent in der Nachbarschaft

Am bekanntesten dürften die Seiten www.nsopr.gov und www.familywatch.us sein, auf denen das amerikanische Justizministerium seit den 90er Jahren Adressenlisten und Fotos von Sexualstraftätern veröffentlicht. Im vergangenen Juli schlossen sich mit Oregon und South Dakota auch die beiden letzten US-Bundesstaaten dem ,,National Sex Offender Public Registry'' an.

Nun können sich Bürger jedes US-Staates darüber informieren, ob vielleicht ein Delinquent in ihrer Nachbarschaft wohnt. Lokaljournalisten durchpflügen das Register inzwischen gerne für eine gute Story. Und manche Bürger nutzen die Informationen auch, um Selbstjustiz zu üben - wie ein Kanadier, der im April 2006 im US-Bundesstaat Maine zwei im Register geführte Triebtäter erschoss.

Ein Recht des Straftäters auf Resozialisierung wird dabei oft ebenso nachrangig behandelt wie der Grundsatz ,,Im Zweifel für den Angeklagten''. So geht die Polizei von Chicago seit mehr als einem Jahr gegen die Prostitution in der Stadt vor, indem sie Fotos von Freiern ,,zur Abschreckung'' für 30 Tage ins Netz stellt, selbst wenn deren Schuld noch gar nicht erwiesen ist.

Misstrauische Ehefrauen können so bequem kontrollieren, ob der Gatte wirklich beim Geschäftsessen war, Angestellte in Erfahrung bringen, ob ein Kollege vielleicht im Rotlichtmilieu verkehrt. Chicagos Bürgermeister Richard Daley rechtfertigte den Netz-pranger damit, Prostituierte aus ihrer Notlage befreien zu wollen. Wenn ein Mann tatsächlich unschuldig sei, könne er ja Einspruch erheben - und sein Foto würde selbstverständlich entfernt.

Schrei zurück!

Ein Zugeständnis von eher fragwürdiger Großzügigkeit, das man auch Männern macht, die ihr Bild zu Unrecht auf den Seiten des US-Weblogs hollabacknyc.blogspot.com wiederfinden. ,,Holla back'' bedeutet soviel wie ,,schrei zurück'' und ist eine Aufforderung an New Yorker Frauen, sich mit ihren Handy-Kameras gegen sexuelle Belästigung auf der Straße zu wehren. Ein Schnappschuss - und das Porträt des Grabschers landet im Internet - zur Abschreckung aller anderen Hinternkneifer und Exhibitionisten.

Und möglicherweise auch zum Vergnügen von Frauen, die für ihren Liebeskummer Rache nehmen wollen, indem sie ein Foto des Ex-Freundes an den virtuellen Grabscher-Pranger stellen. Nachzuprüfen wäre das zumindest kaum.

Im vergangenen Mai kündigte eine Schweizer Medienstudentin an, den ,,Holla-back''-Blog auch in Deutschland zu starten. Freigeschaltet ist die Seite bisher jedoch nicht. Und das ,,vermutlich aus gutem Grund'', wie Marco Thelen von der Bonner Staatsanwaltschaft sagt. In Deutschland verstößt die Veröffentlichung solcher Fotos gegen das Kunst- und Urhebergesetz, also gegen das Recht am eigenen Bild.

Und in vielen Fällen machen sich selbst ernannte Webrächer auch schuldig, weil sie Beleidigungen oder falsche Verdächtigungen in Umlauf bringen. Online-Ermittlungen auf eigene Faust hält Thelen, einer der wenigen deutschen Staatsanwälte mit dem Fachgebiet PC- und Internetkriminalität, naturgemäß für ,,absolut unzulässig''. Wer relevante Hinweise auf ein Verbrechen habe, solle damit nicht ins Netz, sondern zur Polizei gehen, sagt er.

Belästigungen anzeigen

Fälle von Online-Hatz vermeintlicher Straftäter wie sie etwa in den USA oder Großbritannien vorkommen, sind Thelen in Deutschland noch nicht bekannt. Allerdings hat der Staatsanwalt festgestellt, dass der Netzpranger auch hierzulande immer populärer wird. Die Anzahl virtueller Bloßstellungen, das so genannte Cyberstalking, sei in den vergangenen zwei Jahren drastisch gestiegen, sagt er.

Die Palette reicht vom verschmähten Liebhaber, der Nackfotos seiner Angebeteten zur Schau stellt, über die Ehefrau, die im Scheidungskrieg die Kontodaten ihres Mannes ausspioniert, bis hin zum frustrierten Schüler, der seinen Lehrer im Netz diffamiert. Die Verfolgung solcher Fälle ist oft schwierig, weil dafür innerhalb von drei Monaten ein Strafantrag des Betroffenen selbst nötig ist. Opfern rät Thelen deshalb, ihre ,,verständliche aber falsche Scham'' über Bord zu werfen und die Belästigung möglichst schnell anzuzeigen.

Selbst wenn man später dann oft hinnehmen muss, dass das Ergebnis spärlich ist. In vielen Fällen sei der Täter nicht greifbar, ,,etwa weil er seine Kampagne aus dem Ausland lanciert oder weil das Verfahren mangels öffentlichen Interesses eingestellt wird'', sagt Volkmar von Pechstaedt. Der Kasseler Anwalt und Cyberstalking-Spezialist glaubt, dass die Fälle von Belästigung im Internet auch deshalb so dramatisch zunehmen, weil ,,viele Menschen geradezu beängstigend sorglos mit ihren Daten umgehen''. Den Tätern bescheinigt Pechstaedt in der Regel soziale Inkompetenz, ein ,,höchst diffuses Bild von Gerechtigkeit'' und blanken Realitätsverlust: ,,Viele wissen schlichtweg nicht mehr, wie weit man gehen darf.''

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