Kriminalität im Internet:Auf den Inseln der Gesetzlosen

Wie Kriminelle die grenzenlose Freiheit des Web nutzen - und wie wenig die Polizei dagegen tun kann.

Joachim Käppner

Er lebte zuletzt in einer Welt von Bildern, die einem Schreckensgemälde von Hieronymus Bosch entstiegen sein könnten. Er stellte Horrorszenen nach, tauschte sich online mit anderen aus, etwa darüber, wie man ein ausgeschlagenes Auge wirklichkeitsnah darstellen könne. Am Ende ging er in seine alte Schule und schoss mit selbst scharf gemachten Waffen um sich.

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(Foto: Foto: iStockPhoto)

Das war am 20. November vergangenen Jahres, als der 18-jährige Ex-Schüler Sebastian B. im nordrhein-westfälischen Emsdetten mehrere Menschen durch Schüsse schwer verletzte und sich dann selbst richtete. "Ich habe das Massaker geplant und wollte alle töten!"': So hatte der Junge in Chatrooms geprahlt. "Ich war göttlich!", schrieb er über seine Gewaltphantasien.

Die Macht der Bilder, für jedermann transportiert durch das Netz. "Irgendwann genügten ihm die virtuellen Bilder nicht mehr. Sie sollten echter werden", sagt Bert Weingarten, Inhaber der Firma Pan Amp in Hamburg und einer der internationalen Pioniere der IT-Sicherheit. Weingarten hat gleich nach der Tat das Treiben des Jungen im Web mit Hilfe eines High-Tech-Filters rekonstruiert.

Tatort Internet

Sebastian B. war aus der Welt gefallen - aus der realen. In der virtuellen fand er alles, was er brauchte: eine "special effects"-Börse, in der seine Gewaltszenen gehandelt wurden; Menschen mit gleichen gestörten Neigungen; die Anleitung zum Mixen von Schießpulver in einem Online-portal.

Tatort Internet. Erst langsam werden Politik, Wirtschaft und Polizei darauf aufmerksam, was sich da in den Weiten des Web zusammenbraut. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und sein bayerischer Kollege Günther Beckstein (CSU) wollen nun, nach dem Fall des Sebastian B., weitere Internetfahnder zur Jagd ins Netz schicken.

Nordrhein-Westfalens Kripo hat seither eine rund um die Uhr erreichbare "Internetwache" eingerichtet, an die sich jeder per Mail wenden kann.

Schon auf dem IT-Gipfel Ende 2006 hatte Udo Helmbrecht, Präsident des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), vor "massiven Bedrohungen" durch Internetkriminelle aller Art gewarnt.

Die Bedrohung erschien anfangs nicht dramatisch zu sein. War nicht jede neue Technologie, vom Schriftdruck bis zum Prepaid-Handy, auch von Kriminellen genutzt worden? Das unterscheidet die Lagos-Connection, bei der nigerianische Kriminelle naive Europäer in ruinöse Online-Deals locken, wenig von den Klosteräbten des 12. Jahrhunderts.

Sie ließen die Privilegien Kaiser Friedrich Barbarossas fälschen - wohl wissend, dass die Schriftkunst bei den weltlichen Adressaten so wenig verbreitet war wie Kenntnisse der Internetsicherheit bei den Kunden von heute. Das beliebteste Privileg befreite das Kloster übrigens von der Pflicht, den ungehobelten Hofstaat des Herrschers beherbergen zu müssen.

Auf den Inseln der Gesetzlosen

Sorglosigkeit überall

Das sind Sorgen, welche Sicherheitsexperten heute gern hätten. Bert Weingarten spricht sogar von "einer neuen Dimension der Bedrohung". Im Netz, sagt er, "greift die Anarchie um sich".

Es ist ein seltsamer Kontrast. Millionen Deutsche nutzen das Internet mit einer Vertrauensseligkeiten, als gäbe es gar keine Risiken. Und doch sind diese größer als je zuvor. Zahllose Nutzer mailen ohne Virenschutz.

Sie tätigen sorglos Onlinegeschäfte und nehmen die Namen ihrer Kinder als Passwort. Sie chatten und bloggen und tummeln sich im Begegnungsraum des Web 2.0, als sei das Netz eine ständige Selbsterfahrungsparty und nicht für alle Welt zugänglich.

Unternehmen vernetzen sich so bedenkenlos, als gehe nicht längst zielgerichtete "Malware" um, jene bösartige Software, die Passwörter in IT-Systemen ausspäht.

Rechtsfreie Räume breiten sich aus

Noch immer wirkt die überschaubare Schar der Sicherheitsexperten und Kriminalisten, die vor Gefahren warnen, wie ein Häuflein düsterer Untergangspropheten. Dabei hatten Fahnder schon auf einer ersten großen Fachkonferenz, 2003 beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden, eine "Nachholoffensive" verlangt.

Damals beklagte der heutige Europol-Chef Max-Peter Ratzel, im Netz seien immer neue "Inseln der Straflosigkeit" zu finden - sich rasch ausbreitende rechtsfreie Räume, in denen der Staat vor seiner Aufgabe, die Gesellschaft zu schützen, aus Mangel an Mitteln und Willen resigniert habe.

In Deutschland gibt es derzeit 300 Internetfahnder, vier Fünftel von ihnen suchen pädophile Täter. Klaus Jansen, wortgewaltiger Chef der Kripo-Gewerkschaft, kennt sogar "Dienststellen für Internetrecherchen, die keinen eigenen Onlinezugang haben. Anderen fehlt das Geld für aktuelle Software."

Botschafter des Hasses

Der "Fahnder der Zukunft", so Jansen, müsse "im Netz aber ebenso daheim sein wie seine Gegner. Davon sind wir meilenweit entfernt."

Gleichzeitig werden Internetstraftaten zum Massendelikt. "Es gibt schon deutlich mehr Ebay-Betrüger als Einbrecher und wahrscheinlich sogar mehr als Ladendiebe", meint Rolf Jäger, Kripo-Experte in Düsseldorf.

Tatort Internet. Drogenhändler entziehen sich durch kryptisierte Internettelefonate jedem Lauscher der Polizei. Immer mehr Onlinekäufer und Bankkunden werden Opfer von Identitätsbetrügern, die an Passwörter und Kontodaten herankommen und vielleicht irgendwo in einem Internetcafé in Rumänien sitzen.

Allein im ersten Halbjahr 2006 hat sich die Zahl der "Trojaner", verdeckter Ausspähprogramme, weltweit verdoppelt. In Deutschland richteten infizierte E-Mails 2006 einen Schaden von 3,5 Milliarden an.

Auf den Inseln der Gesetzlosen

Paradoxon Internet

Zudem verbindet das Internet Menschen, die ohne das Web wohl nie zu einander gefunden hätten und auch besser niemals zueinander hätten finden sollen. Es bringt die verhinderten islamistischen Bahnbomber vom Sommer 2006 zu jenen Tüftlern, die völlig legal erklären, wie man primitive, aber mörderische Bomben baut.

Es bringt die Botschaft des Hasses aus den Kellern von Geiselnehmern in Bagdad an alle, die sie hören und sehen wollen. Es bringt einen einsamen Mann namens Armin Meiwes zu einem Gleichgesinnten, den Täter zum willigen Opfer.

Meiwes wird als "Kannibale von Rothenburg" weltweit bekannt. Es bringt die Schänder zu den Kindern und einen Kinderschänder zum anderen.

Am Ende könnte paradoxerweise die schier grenzenlose Freiheit des Netzes der Freiheit Grenzen setzen. Denn auch der Staat nutzt die Datenautobahnen für seine Zwecke. Er späht Konten aus, er lässt - wie soeben im Zuge der Fahndung nach pädophilen Kriminellen - mal eben die Kreditkarten von 22 Millionen Kunden überprüfen und zwingt Provider, künftig alle Verbindungsdaten für sechs Monate zu speichern.

Schöne neue Welt?

Um die Inseln der Straflosigkeit zurückzuerobern, fordern viele Fahnder das Verbot zahlreicher Internetseiten und eine möglichst lückenlose Kontrolle der Inhalte. Da selbst Tausende von Cyber-Cops damit überfordert wären, gelten als Überwachungstechnologie der Zukunft Internetfilter, wie sie Bert Weingartens Firma für Internate und Firmen entwickelt hat.

Die Kripo-Gewerkschaft fordert den Einsatz solcher Filter bereits an den Gateways, den elektronischen Einfallstoren des Netzes in Deutschland.

Es gibt weniger als 100 dieser Schnittstellen, und theoretisch lässt sich eine Technik entwickeln, welche Datenströme automatisch auf strafrechtliche verbotene Inhalte durchsucht. Das ist übrigens, im Groben, die Methode, mit der Diktaturen wie China oder Iran das Internet ihrer Länder kontrollieren.

Tatort Internet. In seiner grausigen Vision von der totalen Erfassung des Menschen, in "Schöne neue Welt", schrieb Aldous Huxley 1932: "Es sieht ganz so aus, als sei uns Utopia näher, als irgend jemand es sich vor nur 15 Jahren hätte vorstellen können."

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