Internetzensur in der Türkei:Schwarzes Loch am Bosporus

Gerade zwei Absätze widmet der aktuelle EU-Fortschrittsbericht der Internetzensur in der Türkei. Dabei blockieren die Behörden inzwischen mehr als 6000 Websites.

J. Kuhn

Wenn Erkan Saka in einem Istanbuler Internetcafé sein Blog aufrufen möchte, erscheint nur eine kurze Nachricht: "Dies ist eine verbotene Seite, Ihr Browser schließt sich in wenigen Sekunden." Vielleicht liegt es daran, dass auf dem Blog Beiträge über Meinungsfreiheit erscheinen, vielleicht gelangte seine Seite auch versehentlich auf eine Sperrliste. Erkan Saka weiß es nicht: "Eine Erklärung habe ich niemals bekommen", sagt er.

Internetzensur in der Türkei: Internetcafé in Istanbul: Tunnelsoftware als Grundwerkzeug.

Internetcafé in Istanbul: Tunnelsoftware als Grundwerkzeug.

(Foto: Foto: AFP)

In ihrem aktuellen Fortschrittsbericht zum Beitritt der Türkei (hier als pdf) widmet die EU dem Thema gerade einmal zwei Absätze. "Regelmäßige Sperrungen von Internetseiten sind weiterhin ein Grund zur Sorge", heißt es auf Seite 19 lapidar.

Das ist sehr diplomatisch formuliert. Mehr als 6000 Internetseiten, schätzen Bürgerrechtler, sind von der Türkei aus inzwischen nicht mehr erreichbar, Tendenz steigend. Einige wie Last.fm werden aus Gründen des Urheberrechts geblockt, viele andere, weil die türkischen Behörden ihre Inhalte als anstößig betrachten. Die prominenteste ist YouTube, doch auch pro-kurdische Seiten oder die Internetpräsenz des Evolutionsbiologen Richard Dawkins sind gesperrt.

Das schwarze Loch, in dem Seiten immer wieder verschwinden, trägt die Zahl 5651. Das ist die Nummer des Gesetzes, welches das türkische Parlament kurz vor den Wahlen im Sommer 2007 verabschiedete. Offiziell diente es der Bekämpfung von kinderpornografischen Inhalten im Netz.

Freifahrtschein für die Behörden

Doch bereits damals war klar, dass die Regierung das Gesetz eigentlich aus einem anderen Grund auf den Weg brachte. Im März 2007 hatten türkische Behörden auf YouTube Videos entdeckt, in denen der Staatsgründer Kemal Atatürk in einer Animation als Homosexueller dargestellt wird - so singt er beispielsweise den Village-People-Hit "YMCA".

Weil die Verunglimpfung des Staatsgründers in der Türkei unter Strafe steht, entschied ein Istanbuler Gericht, YouTube abzuklemmen. Der Eigentümer Google verhandelt seitdem über eine Freischaltung des Dienstes. Wie sehr die türkischen Behörden mauern, zeigt sich an der Forderung, die ein Staatsanwalt zwischenzeitlich erhob: Google solle die Anti-Atatürk-Videos weltweit sperren, um die Gefühle der im Ausland lebenden Türken nicht zu verletzen.

Gesetz Nr. 5651 sollte der Justiz eigentlich klare Richtlinien für Sperrungen an die Hand geben. Doch es lässt so viele Spielräume, dass die Behörden es inzwischen als Freifahrtschein nutzen: Staatsanwälte können nach Hinweisen oder auf eigene Faust vermeintlich problematische Seiten ohne Anhörung blocken, ein Gericht entscheidet dann innerhalb von 24 Stunden über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs. Auch die Telekommunikations-Verwaltungsbehörde TIB kann eigenhändig und ohne Begründung Seiten sperren.

"Es gibt keinerlei Transparenz", klagt deshalb der Bürgerrechtler Yaman Akdeniz von der Universität Istanbul: "Außer den Staatsanwälten, dem Gericht und der TIB weiß niemand genau, warum ein Sperrauftrag ausgestellt wurde." Ähnlich dubios sei der Einsatz der Filtersoftware, die in Schulen und Internetcafés verwendet wird, so Akdeniz: Dass Seiten wie das Blog von Erkan Saka auf den Sperrlisten landen, wird nicht kommuniziert, geschweige denn begründet.

Wie die türkischen Behörden ihre Macht ausnutzen

"Das Verhalten von Behörden und Justiz macht vieles kaputt", sagt auch Erol Önderoglu von der Organisation Reporter ohne Grenzen. Viele Staatsanwälte und Richter, glauben Kritiker, würden ihre Macht über das Internet inzwischen dazu nutzen, dem Volk kritische Inhalte vorzuenthalten, um so die türkische Gesellschaft nach dem eigenen Weltbild zu formen.

Wie konservativ dieses Bild ist, zeigte sich vergangene Woche, als die TIB die Seiten Gabile und Hadigayri sperrte, die mit insgesamt 225.000 Mitgliedern zu den größten Homosexuellen-Portalen des Landes zählen. Erst als es im Internet Proteste hagelte und die Medien über die homophobe Einstellung der Verantwortlichen spekulierten, hob die Behörde die Sperrung auf. Die Rechtfertigung, die Seiten hätten Prostitution gefördert, wurde nicht mit konkreten Beweisen unterfüttert.

In der Türkei haben sich viele Internetnutzer bereits an die Zensur gewöhnt. "Die Nutzung von Internettunneln, um über Rechner im Ausland auf offiziell geblockte Seiten zuzugreifen, ist bei den jungen Türken heute Grundwissen", erzählt Blogger Saka: "Inzwischen gehört es schon bei den konservativsten Zeitgenossen zum guten Ton, sich über die Sperr-Entscheidungen lustig zu machen." Schätzungen zufolge umgehen täglich rund 1,5 Millionen Türken die Blockade, um sich Videos auf YouTube anzusehen.

Sogar Erdogan guckt YouTube

Selbst Premierminister Tayyip Erdogan scheint das Verbot nicht zu kümmern: Jüngst empfahl er mitgereisten Journalisten auf einem Staatsbesuch YouTube-Videos, in denen die Opposition durch den Kakao gezogen wird. Als ein Reporter anmerkte, dass der Zugang zum Videoportal doch eigentlich gesperrt sei, erwiderte Erdogan: "Ich komme rein, Sie tun's doch auch."

Dass die Regierung das umstrittene Sperrgesetz vor der nächsten Wahl im Jahr 2011 ändern wird, ist zu bezweifeln. Durch die Öffnung in der Kurdenfrage spürt Erdogan bereits jetzt heftigen Gegenwind aus dem konservativen Lager; die Abschaffung des Gesetzes 5651 würde als weiterer liberaler Fehltritt gebrandmarkt.

Blogger Erkan Saka fordert die EU deshalb auf, den Druck auf Ankara zu erhöhen: "In dieser Beziehung bewegt sich nichts, Brüssel müsste viel aggressiver vorgehen", sagt er, "aber vielleicht wollen sie die innenpolitische Situation nicht aus dem Gleichgewicht bringen."

Dem türkischen Volk selbst scheint das Thema weitestgehend egal zu sein: Bürgerrechtsbewegungen sind trotz der Allgegenwart der Zensur nicht in Sicht, Projekte wie Yaman Akdeniz' türkischer Ableger von Cyber-Rights.org bleiben die Ausnahme. "Ich verstehe es nicht", seufzt Erol Önderoglu von Reporter ohne Grenzen: "Warum hält das Land an solch totalitären Methoden fest, anstatt sich auf den Weg in die Zukunft zu machen?"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: