Internet und Gesellschaft:Die digitale Angst der Deutschen

Alte Debatten in neuem Gewand: Die digitale Avantgarde führt die Internet-Diskussionen immer noch auf der Basis der Abgrenzung. Doch ihr Bonus ist aufgebraucht: Zeit, dass sich etwas ändert.

M. Moorstedt und J. Füchtjohann

Gibt man auf der deutschen Seite des Buchhändlers Amazon den Begriff "Internet" ein, bekommt man es mit der Angst zu tun. Ein Buch erklärt, "Wie Medien und Internet unsere Werte zerstören"; es gibt ein "Lexikon der Internetfallen"; Titel voller "Achtung!" und "Vorsicht!" warnen vor dem "Kriegsschauplatz", der "Karrierefalle" oder dem "Tatort Internet", an dem "Selbstmord", "Rufmord", "Falsche Freundschaft" und "1000 Gefahren" lauern. Sind Frauen und Kinder unvorsichtig, werden sie erst zu Opfern von "Cyber-Bullying", dann von "sexueller Gewalt", bevor sie sich folgerichtig in die "Generation Porno" verwandeln.

Hal9000

Hal 9000 (Symbolbild): Die berühmte German Angst vor der virtuellen Welt?

(Foto: MGM)

Ist das die berühmte German Angst? "Sie fürchten sich und schwitzen wie in der Hölle, aber sie wissen nicht, wovor Sie sich fürchten. Außer dass etwas Schlimmes geschehen wird, nur wissen sie gar nicht, was. Haben sie das schon mal gehabt?", fragt die Hauptfigur in Truman Capotes "Frühstück bei Tiffany". "Quite often", so die Antwort: "Some people call it ANGST."

Man könnte nun sagen, so ist er eben, der populäre deutsche Sachbuchmarkt: empört, fremdenfeindlich, aufgeregt. Doch leider finden sich auch die nationalen Regierungen nur ungern mit dem Verlust ihrer Deutungshoheit ab - und haben dabei den Vorteil, ihre Ängste nicht nur in Bücher, sondern in Gesetze schreiben zu können.

Dreimal wurde daher bisher versucht, das deutsche Internet zu filtern, zu sperren und zu begrenzen: 2009 ging es um Kinderpornografie, 2010 um den Schutz der Jugend, dieses Jahr geht es um Glücksspiel.

Dass von der Berliner Netzkonferenz Re:publica in der vorvergangenen Woche die Gründung der Bürgerrechtsorganisation "Digitale Gesellschaft" vermeldet wurde, ist also eine gute Nachricht. Es entsteht endlich eine Organisation, die sich für das Internet einsetzt und die Belange der Online-Gemeinde gegen übereifrige Politiker vertritt.

Neue Debattenkultur, alte Diskussionen

Das Problem ist nur: Die in der Gründungskampagne zu Recht aufgeworfene Frage "Warum spielt Deutschland in so vielen Branchen eine Vorreiterrolle - nicht aber in der digitalen Welt?" müssen sich die deutsche Netizen auch selbst stellen. Johnny Häusler, Mitgründer der Re:publica, hatte zu Beginn seiner Konferenz unter anderem eine "neue Debattenkultur" versprochen. Aber wie neu ist eigentlich, worüber im deutschen Netz gestritten wird?

Betrachtet man wichtige Themen der vergangenen Jahre - Datenschutz, Urheber- und Konsumentenrechte, Open Data, Feminismus etc. - dann geht es im Highspeed-Biotop des sozialen Netzes vor allem mit alten Argumenten um alte Probleme.

Stimmen ohne globale Bedeutung

Sehnsuchtsvoll blickt man da auf die lebhaften Debatten im englischsprachigen Netz, wo die Diskursräume wesentlich differenzierter sind - vom hyper-anarchischen Messageboard 4chan bis zu den elitären TED-Talks werden Meinungen geäußert und dann weltweit vervielfältigt und angeregt kommentiert.

Deutsche Stimmen von globaler Bedeutung gibt es dagegen kaum. Kein Jaron Lanier, der die Probleme und Herausforderungen der digitalen Gegenwart auf Fragen von Soft- und Hardware herunterbricht. Kein Kevin Kelly, der sich an einer neuen Technik-Philosophie versucht.

Kein Nicholas Carr, der harsch, aber nicht hysterisch zu bedenken gibt, dass nicht alle Entwicklungen des letzten Jahrzehnts positiv sein müssen. Und nicht einmal ein Jeff Jarvis, der die totale Offenheit fordert und fördert, egal ob es um seinen Prostatakrebs oder den letzten Saunagang geht.

Nur wer das Netz preist, darf mitreden

Und hieß es bei Clay Shirky noch "Here comes everybody" - eine zugegebenermaßen voreilige Jubelarie auf das Zeitalter von Crowd-sourcing und Wissenskollaboration - kommen für die deutsche Netzgemeinde allenfalls "Die Datenfresser".

Internetdebatte Fremdheit

Das Internet ist längst Teil unserer Alltagskultur, der Avantgarde-Bonus der Early Adopter ist aufgebraucht.

(Foto: iStock)

Das gerade unter diesem Titel erschienene Buch der Sprecher des Chaos Computer Clubs, Constanze Kurz und Frank Rieger, schildert unter anderem eine Dystopie der totalen Transparenz 2020. Es kann kein Zufall sein, dass über Riegers Blog steht: "Knowledge Brings Fear".

Kritische Reflexion ist wichtig, darf aber nicht mit selbst verordneter Provinzialität verwechselt werden. Viel zu lange haben sich die Protagonisten des deutschen Internet an der alten Ordnung abgearbeitet. Außenstehende durften nur mitreden, wenn das von ihnen Gesagte dem Netz gegenüber affirmativ war.

Das galt für den Bremer Psychologen Peter Kruse, der auf der Re:publica 2010 frenetisch dafür gefeiert wurde, dass er den sozialen Netzwerke anerkannte und ihnen große, wenn nicht alles umwerfende Möglichkeiten attestierte. Oder für Alexander Kluge, der die Digital Natives auf der DLD-Konferenz im vergangenen Jahr mit beinahe rührender Begeisterung in ihrem Streben nach gesellschaftlicher Teilhabe anfeuerte.

Doch während einige Alte das Netz immer noch seltsam finden und sich deshalb mal anbiedernd, mal ablehnend äußern, ist es für viele andere längst zur Lebensrealität geworden.

Der Avantgarde-Bonus ist aufgebraucht

Trotzdem erschien es dem Re:publica-Mitgründer Johnny Häusler auch dieses Jahr wieder nötig die Besucher seiner Konferenz zu fragen: "Was hat das Internet je für uns getan?" - und gleich selbst zu antworten: "schnelle Vertriebswege für digitale Güter, leichterer Zugriff auf Informationen, Publikationsmöglichkeiten für Jedermann, größere Chancen für Bildung".

Das stimmt. Nur leider war es allen Anwesenden längst klar.

Die von dem Berliner Journalisten und Netzapologeten Klaus Raab in seinem soeben erschienenen Buch gestellte Frage "Wir sind online - wo seid ihr? (Blanvalet Verlag, München 2011, 333 Seiten, Euro 12,99), führt nicht besonders weit. Wenn man ständig wartet, bis auch die Ewiggestrigen aufgeholt haben, geht es nicht voran.

De facto sind heute nicht nur jüngere Menschen, sondern auch Angestellte und Großeltern, Verlagsmanager und ARD-Chefredakteure online. Der Avantgarde-Bonus der Early Adopter ist aufgebraucht.

Nur wenn die "Digitale Gesellschaft" das deutlich macht, wird sie ein Erfolg. Denn gegen die deutsche Angst hilft nur die deutsche Normalität. In den USA haben die Stimmen aus dem Netz längst aufgehört, gegen die alten Ordnungen zu wettern. Sie wissen, dass es eine neue gibt.

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