Internet und Gesellschaft:Auch du bist drin

Das Internet entwickelt sich zum globalen Gedächtnis, das jeden kennt und alles weiß - viel mehr, als den meisten Menschen lieb ist.

Jochen mag Marihuana. Daran lässt er wenig Zweifel. Und das nicht etwa im Freundeskreis, sondern vor Millionen von Menschen: im Internet. Auf seiner Startseite bei StudiVZ posiert Jochen* (*Name von der Redaktion geändert) keck lächelnd vor dem Bild eines überdimensionalen Hanfblatts.

Internet; AP

Im weltweiten Internet wird der Mensch transparent: Immer mehr Daten sind schwer löschbar und im Datennetz permanent zugänglich (Archivaufnahme).

(Foto: Foto: AP)

Er ist Gründer der Diskussionsgruppe "Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen", engagiert sich aber auch in Gruppen wie "Ich scheiß auf Konsum!!!" und "Wenn mein Kind mal Hilde heißt, zünde ich es an!". Seine politische Richtung bezeichnet Jochen als "grün", aus seinem Studienfach macht er kein Geheimnis, genauso wenig aus dem Namen seiner Uni und dem seiner ehemaligen Schule.

Jochen ist nicht allein. Etwa 3,3 Millionen Mitglieder zählt StudiVZ. 85 Prozent davon geben bereitwillig ihre privaten Daten in der Öffentlichkeit preis - ohne Bedenken und ohne zu zögern: Im modernen Mitmach-Web, das von den Ideen und Kontakten seiner Nutzer lebt, ist Intimsphäre kein Thema mehr. Wer kann, füttert das Netz mit persönlichen Daten.

Billige Speicher

In Weblogs werden politische Ansichten ausgebreitet, in Selbsthilfeforen medizinische Probleme thematisiert. Private Bilder und Videos finden ihren Weg in die Download- Portale. Und soziale Kontaktbörsen wie MySpace oder StudiVZ kennen eh kaum noch ein Tabu. Auf der Suche nach Aufmerksamkeit wird fast alles veröffentlicht - von der Schuhgröße bis zur sexuellen Vorliebe.

An die Folgen denken die wenigsten. Dabei haben Datensammler, Arbeitgeber und schaulustige Surfer die neue Offenheit längst für sich entdeckt. "Das Netz vergisst nichts", sagt Peter Schaar, Bundesbeauftragter für Datenschutz in Bonn. Sobald Daten irgendwo im Netz auftauchen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwer sie herunterlädt, dass irgendein Web-Archiv sie abspeichert, dass irgendeine Suchmaschine sie indiziert - ohne Chance, die Daten je wieder zu löschen.

"Die Speicherpreise sind heute so niedrig, dass Menschen komplette soziale Netzwerke herunterladen und die Daten lange Zeit aufheben können", sagt Alessandro Acquisti, der an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh soziale Netzwerke studiert. In 20 Jahren, wenn einer der heutigen StudiVZ-Nutzer eine Führungsposition anstrebt, könnten die alten Daten wieder hervorgekramt werden.

Ego-Surfing war gestern

Und Drogenkonsum fördert - egal, ob jemand inhaliert hat oder nicht - die Karriere nur in den seltensten Fällen. Katharina* hat mit Marihuana nichts am Hut. Ihre StudiVZ-Seite, die von Jochens Profil nur wenige Klicks entfernt ist, kommt äußerst brav daher. Hinter dem Porträtfoto schimmert ein blauer See, die Diskussionsgruppen haben keine anstößigen Namen, den Lebenslauf ziert ein freiwilliges soziales Jahr bei einem kirchlichen Träger.

Wer allerdings auf die privaten Fotos klickt, die direkt unterhalb der blauen Seeidylle verlinkt sind, bekommt eine ganz andere Katharina zu sehen: Bier trinkend, Zigarren rauchend, wild mit anderen Frauen knutschend. Das Problem: Jeder kann bei sozialen Netzwerken wie StudiVZ private Fotos hochladen, die darauf feiernden Menschen identifizieren und die Bilder automatisch deren Profil zuordnen lassen - ohne dass die Abgebildeten etwas dagegen tun können. Mehr als 100 Millionen Fotos sollen bereits bei StudiVZ gespeichert sein.

Bei Facebook, dem amerikanischen Vorbild der deutschen Studentenseite, sei die Zahl der Leute, die Bilder anderer hochlädt, doppelt so hoch wie die der User, die eigene Bilder preisgeben, sagt Markus Glaser von der Universität Regensburg. Das entgeht auch den Universitäten nicht: An der britischen Oxford University pflegen Studenten die altehrwürdige Tradition, sich nach bestandenem Examen gegenseitig mit Eiern, Mehl und Tierfutter zu bewerfen.

Jedes Jahr entstehen der Stadt dadurch nach Angaben des Daily Telegraph Reinigungskosten in Höhe von 30 000 Euro. Da die Studenten sich bei ihren Späßen fotografierten und die Bilder bei Facebook veröffentlichten, hatte die Universität diesen Sommer leichtes Spiel, die Beteiligten ausfindig zu machen: Wer bei Facebook mit Ei im Gesicht erwischt wurde, musste mit Strafandrohungen zwischen 60 und 150 Euro rechnen.

Nur die wenigsten Studenten hatten ihre Profile so eingestellt, dass nur Freunde und nicht auch Fremde sie sehen konnten. Warum auch? Einer der Hauptgründe für soziale Internetnetzwerke besteht ja gerade darin, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen. Und das geht nur, wenn das eigene Profil von möglichst vielen gefunden werden kann.

Auch du bist drin

"Ego-Surfing", die Eingabe des eigenen Namens in Suchmaschinen, war gestern. Der neue Trend heiße "Profile Stalking", sagt Danah Boyd von der University of California in Berkeley. Ähnlich wie ein Stalker, der in der realen Welt Menschen nachstellt, kann jeder auch im Internet und in sozialen Netzwerken das Leben der anderen durchstöbern - seien es Altbekannte, Fremde oder Leute, die man auf der Party am Abend zuvor kennengelernt hat. Einen Unterschied gebe es jedoch, sagt Boyd: Während sich der Stalker auf der Straße verstecke und meist eine gestörte Persönlichkeit habe, seien "Profile Stalker" Menschen wie du und ich.

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Schnüffelnde Arbeitgeber

"Wir alle machen es", sagt die Anthropologin. "Es befriedigt unser tief verwurzeltes Verlangen, etwas zu wissen." Menschen, die einem nahestehen, die man bewundert oder die wichtig für die Karriere sind, wird besonders oft nachgestellt. Mitunter siege aber auch die blanke Neugier, sagt Boyd.

Zum Beispiel, wenn es mithilfe des Internets gelingt, sich in wenigen Minuten ein Bild von einem völlig fremden, aber interessanten Menschen zu machen: "Und was schadet es schon, wenn man das Leben eines anderen ein bisschen verfolgt?" In der Regel wenig, solange es sich beim Online-Stalker nicht um einen der künftigen Arbeitgeber handelt.

Denn auch die suchen im Netz schon lange nach der vermeintlichen Wahrheit über ihre Bewerber: Bei einer Befragung der US-Jobbörse CareerBuilder im Herbst vergangenen Jahres gaben 26 Prozent der 1150 angeschriebenen Personalbearbeiter an, ihren Bewerbern im Internet hinterherzuschnüffeln. Sie klopfen Lebensläufe ab, überprüfen Referenzen, stöbern nach Meinungsäußerungen und Freizeitaktivitäten. Studien aus Deutschland liefern ganz ähnliche Zahlen, Tendenz steigend.

Wurden die befragten Personalchefs auf der Suche in sozialen Netzwerken fündig, flogen die Kandidaten in zwei Dritteln der Fälle aus dem Bewerbungsverfahren. Bei 20 Prozent der auf diesem Weg Enttarnten waren Alkohol oder Drogen der Auslöser für den Rausschmiss. Selbst Personalberater, die es während ihres eigenen Studiums haben krachen lassen, reagieren eher ablehnend, wenn sie einen Kandidaten im Internet vor Hanfblättern posieren sehen.

Programmierte Personensuche

Aber auch aufgeflogene Schönfärbereien im Lebenslauf, abfällige Äußerungen über einen früheren Arbeitgeber oder unangebrachte Spitznamen lassen, so CareerBuilder, die Bewerbungsmappen direkt in den Papierkorb wandern. Google, der große Karrierekiller? "Natürlich können online verbreitete Informationen negative Auswirkungen auf die eigene Karriere haben", sagt CareerBuilder-Vizechefin Rosemary Haefner. "Bewerber können sie aber auch zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen und so andere Kandidaten ausstechen."

Um die Spreu vom Weizen zu trennen, unterhalten Headhunter wie Heidrick & Struggles ganze Abteilungen: Im indischen "Knowledge Management Center" des weltweit operierenden Personalberatungsunternehmens erstellen Experten nach Informationen der Wirtschaftswoche bis zu 25-seitige Dossiers über potenzielle Führungskräfte - natürlich mithilfe des Internets. In Zukunft könnten diese Aufgabe spezielle Suchmaschinen übernehmen.

Als der US-Informatiker Jared Kim vor mehr als einem Jahr die Personensuche Stalkerati.com programmierte, die gezielt Profile auf Facebook und MySpace durchforstete, wollte er damit lediglich die technischen Möglichkeiten austesten. "Es war ein lustiges, kleines Projekt", schreibt Kim in seinem Weblog. Mittlerweile haben Personensuchmaschinen andere Namen und ganz andere Ambitionen. Sie heißen Zoominfo oder Wink, Upscoop oder Spock und wollen umfassende Online- Dossiers über jeden Menschen erstellen.

Auch du bist drin

Dazu durchsuchen die Datenkraken nicht nur soziale Netzwerke, sondern auch Weblogs und das Internet. Sie werten aus, was andere über einen schreiben, suchen sich automatisch Fotos zusammen, ermitteln Freunde und Verwandte, studieren Reisepläne und erschaffen so ein Bild von einem Menschen, das mehr oder minder der Realität entspricht.

Mehr als 100 Millionen Profile hat Spock (kurz für Single Point of Contact und Knowledge, wörtlich: Zentraler Ort für Kontakte und Erkenntnisse) nach eigenen Angaben bereits gesammelt. Noch sind es hauptsächlich Amerikaner, die sich mit meist spärlichen Informationen auf der Seite wiederfinden. Doch wenn künftig auch deutschsprachige Netzwerke wie Xing oder StudiVZ integriert werden, dürften auch Jochen, Katharina und all die anderen bei Spock auftauchen - ohne ihr Zutun.

"Jeder muss sich klarmachen, wie viel über ihn bereits im Internet steht", sagt Spock-Mitbegründer Jaideep Singh. "Wir bündeln diese Informationen nur." Doch nicht nur das. Jeder kann zu den aufgelisteten Menschen auch Fotos hochladen und ihnen Kategorien verpassen. Eigentlich soll das helfen, Verwechslungen zu vermeiden.

Rache der Betrogenen

Wer jedoch nach dem Schlagwort "Massenmörder" sucht, findet nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Pol Pot oder Josef Stalin, sondern auch viele Highschool-Girls aus dem Mittleren Westen, denen Freunde oder Feinde diese Kategorie verpasst haben. Zwar wirbt Spock damit, dass jeder sein Profil ändern und auf Wunsch löschen lassen kann. Aber dazu muss man erst einmal wissen, dass es so etwas gibt und es im Auge behalten.

Und Spock ist nicht die einzige Personensuchmaschine. Noch schwerer lassen sich unliebsame Informationen entfernen, die auf Webseiten oder in Weblogs auftauchen. Firmen und Prominente schicken dazu gern ihre Anwälte vor. Sie wollen mit Abmahnungen die Daten aus dem Netz bekommen - und bewirken oft das Gegenteil: Ehe der Komiker Atze Schröder im Frühjahr versuchte, seinen echten Namen aus dem Online-Lexikon Wikipedia löschen zu lassen, interessierte sich niemand dafür, wer hinter getönter Brille und Dauerwellen- Perücke steckt.

Doch nach dem Rechtsstreit kochten im Netz die Emotionen hoch. Mittlerweile spuckt die Suche nach Schröders echtem Namen mehr als 500 Einträge aus. Viktor Mayer-Schönberger von der Harvard University vergleicht den Versuch, im Netz etwas ungeschehen zu machen, daher auch mit dem Wunsch, eine Tätowierung wegzubekommen. Tinte beziehungsweise Informationen gingen dabei oft nicht weg, sondern verliefen nur noch weiter, sagt er.

Der Rechtsweg steht, sofern die falschen oder verleumderischen Informationen auf deutschen Servern liegen, natürlich auch Privatpersonen offen (siehe Kasten unten). Doch er ist langwierig und verursacht im schlimmsten Fall - wie bei Atze Schröder - zusätzlichen Wirbel. Eine freundliche Mail an den Betreiber der Seite hilft oft mehr. Dienste wie ReputationDefender in den USA oder Datenwachschutz in Deutschland haben sich genau das zur Aufgabe gemacht. Die Onlinedetektive versprechen, persönliche Informationen im Netz ausfindig zu machen, Ansprechpartner zu ermitteln oder Daten entfernen zu lassen, gegen Bezahlung, versteht sich.

Doch das Geschäftsmodell birgt gleich mehrere Probleme: Der Forscher Acquisti hat Internetnutzer befragt, wie viel Geld sie ausgeben würden, um ihre Daten vor unbefugter Verbreitung zu schützen. Die Antwort: Selbst 20 Cent wären den meisten zu viel. ´"Den Menschen ist Geld wichtiger als der Schutz ihrer Daten", sagt der Informatiker. Zudem werden selbst Dienste wie ReputationDefender nicht alle unerwünschten Informationen aus dem Netz bekommen.

Wir sind nicht die Internetpolizei

Den betrogenen Ehemann, der aus Rache die Nacktbilder seiner Frau ins Netz stellt, schüchtert eine Mail nicht ein. Und der verärgerte Geschäftspartner, der anonym immer wieder Gerüchte über das unzuverlässige Geschäftsgebaren des Gegenübers streut, ist erst gar nicht auszumachen. Überhaupt: Irgendwas bleibt immer hängen. Auch Google ist in diesem Fall keine große Hilfe.

Allenfalls bei klaren Verstößen gegen deutsches Recht, wenn jemand etwa mit einer einstweiligen Verfügung kommt, verbanne der Suchmaschinenbetreiber Einträge aus seinen Ergebnislisten, sagt Google-Sprecher Stefan Keuchel. Tagtäglich meldeten sich Menschen, die unliebsame Informationen aus dem Google-Index entfernt haben wollen - in 95 Prozent der Fälle erfolglos. "Wir sind nicht die Internetpolizei, die über guten und schlechten Inhalt richten kann", betont Stefan Keuchel. "Da wir den magischen Laserstrahl, der im Netz alle ungewollten Informationen löscht, nun mal nicht erfinden können, hilft nur ein offensiver Umgang mit der eigenen Netz- Identität", sagt Fred Stutzman von der University of North Carolina.

Seine Idee: An zentraler Stelle sollen User alle relevanten Daten über sich sammeln, kommentieren und, falls nötig, auch richtigstellen - Hauptsache, die aufbereiteten Informationen erscheinen weit oben in den Ergebnislisten der Suchmaschinen. Gelingen kann das durch eigene Webseiten, Weblogs oder durch Dienste wie ClaimID, Ziki und Naymz, die sich der Pflege der digitalen Reputation verschrieben haben. Mit ClaimID etwa, von Stutzman ins Leben gerufen, können Nutzer nicht nur ein eigenes Profil erstellen, sondern auch digitale Jugendsünden verlinken und interpretieren. "Hier steht endlich wieder der Mensch im Mittelpunkt und nicht die Technologie", sagt der Sozialwissenschaftler.

Die eigene, profilierte Visitenkarte bietet sich auch für Menschen an, die einen Namensvetter im Netz haben, mit dessen Aktivitäten sie nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Wem selbst das nicht reicht, dem verspricht Naymz, dass bei der Suche nach dem eigenen Namen das herausgeputzte Profil ganz oben erscheint. Das könnte zukünftig immer häufiger der Fall sein. Schon heute dreht sich Schätzungen zufolge jede dritte Anfrage bei Suchmaschinen um Personen.

Und erst vor wenigen Wochen hat Google-Chef Eric Schmidt angekündigt, Informationen noch besser personalisieren zu wollen. Google solle eines Tages genug wissen, um Nutzern Fragen beantworten zu können wie "Welchen Job soll ich annehmen?" oder "Was soll ich morgen machen?". Die Antwort ist gar nicht so schwer: Einfach mal den Computer auslassen.

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