Internet-Phänomene 2011:Wenn die Photoshop-Bastler zuschlagen

Ob Arielle die Meerjungfrau, Londoner Krawallmacher oder Christina Aguilera: Auch 2011 war fast niemand davor sicher, mit Hilfe von Photoshop zum Internet-Phänomen zu werden. Die verrücktesten Mem-Trends des Jahres - und was hinter ihnen steckt.

Kilian Haller

Kim Jong Il ist tot, doch Bilder des Diktators kursieren nach wie vor zahlreich im Internet. Es handelt sich bei diesen Anhängern aber nicht um systemtreue Nordkoreaner, sondern um kreative Spaßmacher - sie basteln Montagen von Kim Jong Il und setzen sie in einen anderen Kontext. Plötzlich steht der alte Mann mit Sonnenbrille und Fellmütze nicht mehr zwischen Betonbauten und Stabsoffizieren, sondern im farbigen Bühnenlicht, neben angesagten DJs.

Internet-Memes 2011: Business Cat

Die "Business Cat" ist ein humoristisches Mem: Es verwandelt typischen Bürojargon in Katzensprache.

(Foto: Screenshot: knowyourmemes.com)

Aus der Idee ist ein Running Gag geworden, den jeder weitererzählen darf, der ein Bildbearbeitungsprogramm bedienen kann. Trends dieser Art heißen "Meme" - sie bevölkern das Internet als Bilder, Töne oder Videos in Heerscharen, veröffentlicht in Blogs, sozialen Netzwerken und per E-Mail.

Das Erfolgsrezept ist meist sogar noch einfacher als im Eingangsbeispiel: In ein Bild werden Textzeilen eingebunden - der technische Aufwand dafür ist gleich null. Mit Websites wie memegenerator.net ist das eigene Mem mit wenigen Klicks gebastelt und veröffentlicht.

Als die Video-Plattform YouTube populär wurde, sprachen Beobachter gern vom fünfminütigen Ruhm, den die Clips ermöglichten. Meme haben theoretisch ein langes Leben, weil sie sich in unser kulturelles Gedächtnis einprägen. Die einzelnen Varianten hingegen lassen sich innerhalb weniger Sekunden erfassen und nicht selten auch genauso schnell wieder vergessen. Doch obwohl die Mem-Bastler damit eigentlich Wegwerf-Objekte produzieren, machen sie sich die Mühe, dem Running Gag weiterzuerzählen. Warum?

Um Haltung scheint es dabei selten zu gehen: Ein entsprechendes Beispiel von Anfang 2011 ist die "Business Cat": Das Bild einer Katze mit Schlips und Kragen. Ein Text im Bild suggeriert eine sprachliche Aussage der Katze im Büro-Jargon, abgewandelt auf Katzen-Themen und -Wörter. Beispielsweise heißt es "Deficit? You've gotta be kitten me" (wer den Witz nicht sogleich erfasst, hier die Erklärung: "kitten" bedeutet "Kätzchen", spricht sich aber so ähnlich wie "kidding", wie in "Sie nehmen mich wohl auf den Arm").

Die Business Cat gehört in die Kategorie der "LOLcats" - also Bilder und Videos von Katzen, die offensichtlich gewisse Affekte auslösen. Die Darstellungen sind niedlich, verspielt, naiv und häufig antropomorph. Menschen mögen es, menschliche Eigenschaften auf Tiere zu projizieren - besonders auf Katzen. Die Botschaft hinter den LOLcats lautet deshalb meist schlicht: Sieh her, ein weiteres Katzenbild.

Die kleine Meerjungfrau als Hipster

Etwas anders ist es bei Memen wie "Hipster Ariel". Irgendjemand stattete die Meerjungfrau Arielle aus dem Disneyfilm "Die kleine Meerjungfrau" auf einem Bild einmal mit einer typischen Hipster-Brille aus. Eine Zeichentrick-Figur, ein ungewöhnliches Accessoire - fertig ist das Template, in das wiederum nur Text eingefügt werden muss.

Internet-Memes 2011: Hipster Ariel

"Hipster Ariel" kombiniert die kleine Meerjungfrau mit dem Szene-Typ des Hipsters.

(Foto: Screenshot: knowyourmemes.com)

Bei Hipster Ariel nehmen Mem-Bastler die Modeerscheinung des Hipsters aufs Korn, zum Beispiel die selbstverliebte Eigenart, alle Trends als erster entdecken zu wollen - oder die extreme Abneigung gegenüber dem Mainstream ("Ich wollte mal Beine haben - bis ich gemerkt habe, dass die heutzutage jeder hat"). Hipster-Klischees aus der Realität werden also auf einer absurden Ebene gespiegelt und parodiert.

Bei Hipster Ariel ist die Ähnlichkeit mit einer anderen Bildgattung faszinierend: Dem Emblem. Diese wohl aus der Renaissance-Zeit stammenden Sinnbilder bestehen ebenfalls aus einer dreiteiligen Form mit zwei kurzen Textelementen und einem Bild. Ihre Blütezeit hatten sie im 16. und 17. Jahrhundert - heute werden sie von Literaturwissenschaftlern wieder gesammelt und ausgewertet.

Was aber alle Meme miteinander gemein haben: Eine Grundidee wird in zahlreichen verschiedenen Formen variiert. Das entspricht vollkommen dem Zeitgeist; im Kino erzählen viele zeitgenössische Filmemacher bekannte Geschichten beispielsweise noch einmal. Man beachte nur die vielen Comicverfilmungen, von Transformers bis zu Spiderman, mit ihren unzähligen Prequels und Sequels.

Meme werden ein Teil der Popkultur, beziehen sich jedoch häufig auch auf Szenen und Figuren popkultureller Quellen und geben ihnen einen neuen Kontext. Ein Beispiel: Als Christina Aguilera Anfang des Jahres beim Super Bowl die Nationalhymne sang und den Text durcheinander brachte, war das gefundenes Fressen für die Internet-Gemeinde. Der Clip wurde auf YouTube veröffentlicht und millionenfach angeklickt.

Aus dem viralen Video wurde ein Mem, als ein User ein Bild Aguileras veröffentlichte, auf dem sie mit expressivem Gesichtsausdruck in ein Mikrofon singt. Der eingeblendete Text zeigt leicht abgewandelte, berühmte Textzeilen. Aus Abbas Schlager "See that girl, watch that scene / Dig in the dancing Queen" wird so "See that girl, watch her scream / Kicking the dancing queen".

Als Durchlauferhitzer für Meme fungiert nicht selten Twitter, da dort Nutzer auf aktuelle Ereignisse in Echtzeit eingehen können. Als im Februar der kurz vor dem Sturz stehende damalige ägyptische Präsident Mubarak eine Fernsehansprache halten sollte und zu spät kam, fanden Twitter-Nutzer schnell die abstrusesten Gründe, weshalb er sich verspätete: "Er diskutiert gerade in einem Forum von World of Warcraft, weil ihn jemand 'Noobarack' genannt hat", oder "Er verkauft gerade noch seine Stühle bei Ebay" waren einige Vorschläge.

Dass im Kulturbetrieb bereits bekannte Geschichten wiederholt werden, gab es auch schon früher - aber aktuell ist es ein besonders ausgeprägtes Phänomen. Der Autor Simon Reynolds hat diesen Trend "Retromania" getauft. In seinem gleichnamigen Buch beschreibt er ihn anhand von Musik, die durch Charterfolge von Retro-Acts wie Adele, Duffy und Amy Winehouse sowie Comebacks von Künstlern wie den Beach Boys, den Stone Roses oder Blue dominiert wird.

Warum eigentlich Trash-Kultur?

Internet-Memes 2011: Wrong Lyrics Aguilera

Dass Popsängerinnen den Text der Nationalhymne vor einem Millionenpublikum durcheinanderbringen, soll auch schon in die Deutschland vorgekommen sein. Im Fall von Christina Aguilera erinnert ein Internet-Mem in vielfacher Ausführung an den Faux-Pas.

(Foto: Screenshot: knowyourmemes.com)

In der Musikbranche reicht dieser Trend noch weiter: Seit einigen Jahren gibt es zahlreiche 90er-Jahre-Partys. Wenn die alten "Bravo-Hits" wieder ausgepackt werden, darf das aber natürlich nicht ohne Ironie geschehen, denn wer würde schon von sich behaupten, sein Musikgeschmack sei "90er"?

Die gängige, ironische Argumentation funktioniert so: Der Konsument behauptet, die Musik sei "so schlecht, dass sie schon wieder gut ist". Die Methode heißt "Vertrashung", und sie macht den Genuss der Musik von Captain Jack, den Venga Boys oder E-Rotic sozial vertretbar.

Nun wirken auch die meisten Meme "trashig". Einmal liegt das an ihrem Inhalt: Es handelt sich oft um kurzweilige oder sogar flache Gags. Zum Anderen spielt die Optik eine Rolle: Schrille Farben erheischen Aufmerksamkeit, Montagen sind deutlich als solche zu erkennen, viele ziert immer die gleiche Schriftart.

Im Fall des "Zuckerberg Note Pass"-Mems greift sogar eine Vereinfachung: Eine kleine Videoszene wird zu einem einzelnen Bild. Die Vorlage sind drei Einstellungen aus David Finchers Film "The Social Network", der die Facebook-Gründung durch Mark Zuckerberg nacherzählt.

Besagte Szene zeigt Zuckerberg in einem Uni-Hörsaal. Einige Reihen vor Zuckerberg sitzt ein Mädchen, das einen Zettel zu ihm durchreichen lässt. Im Film steht darauf: "U dick" (auf deutsch so viel wie "Du A...loch"). Die überzogenen Mimiken der beiden Akteure haben die Internet-Nutzer dazu inspiriert, andere Botschaften einzusetzen ("Guck mal wie ein Gorilla"). Auch hier müssen Internet-Nutzer nur Text in ein bestehendes Template einsetzen.

Wie aus einem Mem eine Kirche wurde

Internet-Memes 2011: Inglip

Wie wichtig der kollektive Aspekt am Mem-Basteln ist, zeigt der dunkle Lord Inglip: Ihm zu Ehren wurde die "Church of Inglip" gegründet.

(Foto: Screenshot: knowyourmemes.com)

Es gibt aber auch Meme, bei denen das Template-Konzept ein wenig verändert wurde, so zum Beispiel bei "Inglip". Inglip ist der Name einer fiktiven Kreatur, die über sogenannte "Captchas" Befehle sendet. Ein Captcha kennen alle, die im Internet zumindest gelegentlich unterwegs sind: Es handelt sich um die Aufforderung, einen grafisch verfremdeten Text manuell einzugeben. Ziel dieser Maßname ist es, den Benutzer als Menschen zu identifizieren und damit sicherzustellen, dass es kein automatisches Programm ist, das die Website besucht.

Der verwendete Text wird dabei häufig zufällig generiert - aus zwei englischen Wörtern. Als ein Internet-Nutzer von einem Captcha zur Eingabe der Wörter "inglip" und "summoned" (also "wurde gerufen") aufgefordert wurde, baute er einen kleinen Comicstrip, der mit dem Bild eines überraschten Gesichts endet. Diese Figur war bereits ein Jahr zuvor als Bestandteil eines "Rage Comics" zu Internet-Berühmtheit gelangt. Diese Comic-Variante ist selbst wiederum ein Mem: Dabei zeichnen die Autoren Alltagsszenen, die am Ende durch ein Gesicht mit eindeutiger Mimik bewertet werden.

Aus "Inglips Erscheinung" ist mittlerweile eine ganze Geschichte geworden, bei der seine Anhänger Symbole, Insignien und Anweisungen empfangen - einige haben sich sogar in der "Church of Inglip" zusammengeschlossen. Immer neue Zeichnungen entstehen, die sich auf den Ursprungscomic beziehen.

Das Beispiel macht deutlich, dass Meme auch mit Strichmännchen-Ästhetik funktionieren. Zugleich zeigt es, wie das Internet neue Sinnbezüge erschließt: Viele Meme verweisen auf andere Meme.

Ob es sich dabei nun um eine demokratisierte Kunst der Massen oder schlicht einen humorvollen Zeitvertreib handelt, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass Meme auch mit politischer Bedeutung versehen sein können: So zum Beispiel das Mem "We are the 99 Percent", das im Zuge der Occupy-Bewegung populär wurde.

Hier fotografieren sich Menschen selbst, einen Zettel in der Hand haltend, auf dem sie ihre ökonomische Situation schildern. "Alleinerziehende Mutter, Master-Studentin, arbeitslos und ich habe im letzten Jahr mehr Steuern bezahlt als General Electric. Ich gehöre zu den 99 Prozent."

So wird ein weiterer, wichtiger Aspekt der Meme deutlich: Mit ihnen konstruieren Internet-Nutzer ein kollektives Interesse. In dem globalen Medium entsteht somit ein virtueller Klub, dessen Mitglieder etwas gemeinsam haben.

Anhand der Meme lässt sich sehr viel über die Art und Weise erfahren, wie Menschen im globalen Kollektiv Themen verarbeiten. Das Bedürfnis dazu ist offensichtlich größer denn je - da erscheint die interaktive Auseinandersetzung eigentlich als durchaus sympathisches Mittel.

Noch mehr Meme

Hier weitere Meme dieses Jahres:

[] "Minimal Movie Posters" sind Filmplakate, die im minimalistischen Stil zurecht gemacht sind.

[] "Cinemagraphs" sind Fotografien, bei denen ein Detail in Bewegung ist. Gespeichert werden sie in dem Bild-Format GIF, so dass sie sich wie Bilder (und nicht wie Videos) in Webseiten einbauen lassen.

[] Der "Photoshop-Looter" bezieht sich auf die Jugendkrawalle in England: Bilder von jugendlichen "Lootern" (also "Plünderern") werden mit dem Bildbearbeitungsprogramm Photoshop manipuliert. Die Ergebnisse zeigen vermummte Gestalten am Klavier, beim Diebstahl eines Portraits der Königin oder mit erbeuteten Gummitieren durch die Straßen rennend.

[] "Supercuts" sind Zusammenstellungen ein und desselben Filmzitats - aus verschiedenen Filmen. Sätze wie "We've got company" oder "It's gonna blow" finden in so vielen Filmen Verwendung, dass minutenlange Clips entstehen, wenn die Ausschnitte aneinandergereiht werden.

[] "The Situation Room": Nach dem Tod von Osama Bin Laden wurde ein Bild publik, das US-Präsident Obama, Außenministerin Clinton und andere hochrangige Politiker und Generäle zeigt, wie sie die Operation der Navy Seals verfolgten. Die gespannten Gesichtsausdrücke luden zu Parodien förmlich ein - bei einer der bearbeiteten Versionen des Bildes spielt der Elite-Stab beispielsweise mit Videospiel-Controllern.

[] "First World Problems": Probleme von Bürgern der sogenannten "ersten" Welt werden bei diesem Problem mit Bildern von weinenden Menschen kombininert. Der Tenor ist klar: Anderswo hat man ganz andere Probleme, als "Ich hab es so satt, bei den Restaurants in der Nähe meiner Arbeit zu essen".

Viele weitere Meme gibt es auf der Website knowyourmeme.com.

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